Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, Tante Irmtraud aus Pennsylvania, ein Wunderstein aus Findhorn, vorpubertäre Walnussverpackungen,Sven Schlurz und Norbert Nöbel aus Meppen, Schiele-Porträt und Streicholzschachteln, ein Museum in Böhmen, Kunstkehricht, Uhr und Streichholzschachtel, nebeneinander auf der Postkiste und Kirchners, Rothkos, Modiglianis…..Grottentage

Postkiste, erste Ansicht

Bei der ersten Besichtigung der Dimensionen dieses Papp-Quaders wollte ich schon ein heftiges „Ein Klavier, Klavier…“ abnölen. Doch Mütter kann ich nicht mehr vorweisen, Großmütter ohnehin nicht, auch die männliche Verwandschaftsmasse dieses Grades surft inzwischen irgendwo über den Wolken.
Und „Ein Klavier, ein Klavier, Tante Irmtraud aus Pennsylvania, wir danken Dir“ klingt reimtechnisch einfach beknackt, Loriot würde mich mit der Nudel auf seinem Rüssel erwürgen.

Postkiste, Uhr mit Verpackung, neben dem Postkiste, erste Ansicht

Ich dachte zunächst an ein Überraschungs-Ei von einem Gönner, auch einen Wunderstein aus Findhorn, einer Gemeinschaft im Nordosten Schottlands, die wir vor einigen Jahren besuchten, hatte ich vermutet.
Gleichfalls ein Stück Käse, gehärtet, zur anspruchsvollen Zubereitung von Spaghettis zog ich in Betracht.
Ich erinnerte mich auch an vorpubertäre Exzesse, als wir Geschenke vobereiteten, um eine Walnuss gefühlte neunhundertundsechsundvierzig Papierlagen schnürten und uns dabei bedrohlich dem Heiterkeits-Koma näherten.

Jedenfalls ratterte das obskure Objekt gnadenlos von einer zur anderen Begrenzung der Kiste.
Doch klaubte ich eine Uhr mit normalen Ausmaßen aus diesem postalischen Unfug. Keine Kuckucksuhr für den Kölner Dom und keinen Wecker für King Kongs Nachtgrotte, also eine normale Armbanduhr, auch geeignet für Sven Schlurz und Norbert Nöbel aus Meppen.

Mir erschließen sich nicht die Gründe für die Versendung einer einfachen Armbanduhr in diesem Container, welche auch Sven Schlurz und Norbert Nöbel aus Meppen um ihre durchschnittlich geformten Unterarme tragen könnten.
Vielleicht erwägt man zukünftig den Einsatz eines Baggers.
Ich agiere jetzt einmal als Klischee-Tornado und spreche von den kleinen Dingen, die als Summe durchaus maßgeblich die Umweltverrottung bannen könnten.
Den Tschibo-Heinis sollte man vielleicht einmal mit einem Mega-Propeller so richtig prall ihre blöden, ungemahlenen Kaffeebohnen in die Analöffnungen blasen, um sie in der Erkenntnis zu unterstützen, dass Volumen und Objekt, das dieses Volumen füllt, durchaus eine sinnvolle Relation ergeben können.
Sven Schlurz und Norbert Nöbel aus Meppen würden mir beipflichten

Postkiste, Uhr ohne Verpackung, neben Postkiste, erste Ansicht

Postkiste, Uhr ohne Verpackung, auf der Postkiste, erste Ansicht

Postkiste, Uhr und Streichholzschachtel, neben der Postkiste, erste Ansicht

Als ich nach einem Gegenstand fahndete, um das törichte Missverhältnis zwischen Behälter und Inhalt optisch plausibel zu präsentieren, fand ich eine Streichholzschachtel mit dem Porträt Egon Schieles.
Und mein Unbehagen wurde etwas gemindert.
Vor vier Jahren befuhren wir für einige Wochen die Gebiete von Tschechien und der Slowakai und begannen in Cesky Krumlov, auch Böhmisch Krumau, im südlichem Böhmen. Neben Schloss und dessen Theater in barocker Originalausstattung gibt es natürlich ein Schiele-Museum.
Er wohnte um 1910 in der Stadt und mein Begehren manövrierte mich selbstredend in seine Spuren und in ein kleines, sorgfältig bearbeitetes Museum.
Mir ist mit wenigen Ausnahmen kein Künstler der vergangenen einhundertundfünfzig Jahre erinnerlich, der nicht wenigstens einige Quadratmeter Kunstkehricht hinterließ.
Doch eben mit wenigen Ausnahmen.
Selbst der unvergleichliche Kirchner hatte grottenschlechte Tage, auch z.B. Pollock, Ensor, Soutine, Twombly, Beckmann, Macke, Seurat, Modigliani, Rothko, also Künstler, denen ich durchaus huldige. Der großartige Liebermann versah sich auf seiner Palette, von Munch ganz zu schweigen.
Bei van Gogh sind mir keine Schludereien gegenwärtig. Einohr konnte sich auch eine Binde vor die Augen klemmen, er malte trotzdem einzigartig.
Und eben auch Egon Schiele. Vielleicht lag es an seiner Lebensdauer von nur achtundzwanzig Jahren.
Diese präzise Linienmagie, diese aggressiven Auswürfe eines tragischen Geistes, verzahnt mit morbiden, fast zerstörerischen Selbstdarstellungen und einer bedingungslosen Erotik nahm er mit in sein, zu früh geschaufeltes Grab.
Andenken-Tineff ist mir ja weitgehend fremd, doch erwarb ich im Schiele- Museum eine Packung mit zwanzig dieser Streichholzschachteln.
Als kleines Gastgeschenk wird dieser Einfall immer wieder bejubelt.
Ich könnte ja auch Papier umwickeln, bis zur Containergröße, wie diese Kaffee-Ulfs.
Ich werde es aber nicht.

Postkiste, Uhr und Streichholzschachtel, nebeneinander auf der Postkiste, erste Ansicht

Postkiste, Uhr und Streichholzschachtel, untereinander auf der Postkiste, erste Ansicht

Postkiste, zweite Ansicht

Postkiste, Uhr mit Verpackung, neben der Postkiste, zweite Ansicht

Postkiste, Streichholzschachtel, neben der Postkiste, zweite Ansicht

PPostkiste, Uhr ohne Verpackung, neben der Postkiste, zweite Fassung

Postkiste, Uhr und Streichholzschachtel, nebeneinander auf der Postkiste, zweite Ansicht

Postkiste, Uhr und Streichholzschachtel, untereinander auf der Postkiste, zweite Ansicht

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November 29, 2011 Posted by | Kunst, Leipzig, Verstreutes | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Rod Steiger als Pfandleiher, Nazermann in New York, ein Trauma in Spanish Harlem, Restsülze im Zahn, Jean Gabin, Isabelle Huppert, zwölf Geschworene, ein Augenartist mit Basedow-Tendenz, Rod Steiger als Kofferträger und Unschuldige mit schmutzigen Händen.

Rod Steiger als Pfandleiher im gleichnamigem Film von Sidney Lumet, 1967

Es gibt Schauspieler, die hampeln unentwegt über die Leinwand, kratzen sich die Nüsse, brüllen wie Godzilla, zirkulieren mit ihren Köpfen wie eine Kreissäge, doch der Zuschauer neigt sich bald sanft zurück, kratzt sich gleichfalls die Nüsse und lässt Hypnos und Morpheus ihr Werk verrichten.
Und dann gibt es natürlich auch Schauspieler, die schauen wortlos auf eine zerknorpelte Hauswand, drehen sich erstarrt und teilnahmslos eine Zigarette, fläzen im Schaukelstuhl oder puhlen die Restsülze aus dem Kariesgebiss, sie können sich natürlich auch die Nüsse kratzen und der Zuschauer schluckt, ist gebannt und erschüttert ob der außerordentlichen Schauspielkunst.

Keinesfalls eine neue Erkenntniss, eher die Normalität im Kino.
Natürlich können auch hampelnde, wie Godzilla brüllende Darsteller eine hochwertige Kunst bieten und Knorpelhauswandanstarrer mit Restsülze im Gebiss sich schauspielerisch auf grottigem Terrain bewegen.
Rod Steiger konnte machen, was er wollte, laut und lästig sein oder sich erstarrt vor einer knorpeligen Hauswand die Restsülze aus dem Kariesgebiss puhlen. Sein Status als einer der bedeutendsten Schauspieler der zweiten Jahrhunderthälfte sollte nie angetastet werden.

Gerade bei seiner Rolle als Pfandleiher in „Der Pfandleiher“, brilliert er als ehemaliger Professor in Leipzig, als jüdischer Überlebender des Holocaust, dessen Familie verschleppt, vergewaltigt, getötet, also zerstört wurde.

Dieses Trauma hat er bis nach Spanish Harlem in New York getragen und verstört seine Umgebung mit einer beispiellosen Wortaskese, mit Pessimismus und Hoffnungslosigkeit, die der sensible Zuschauer nur unter Schmerzen ertragen kann.

Und es bedarf eben keiner großen Manierismen, emotionaler Schüttelgesten und Hände ringender Anfälle. Bei Sol Nazermann (Rod Steiger) haben die Spuren einer irreparablen Erschütterung selbst die Fähigkeit und den Willen zu Ausbrüchen und zur berechtigten Darstellung des Schmerzes über ein unsägliches, zum Himmel schreiendens Unrecht getilgt.
Das Leid hat selbst seinen Schmerz gebrochen.
Er umpanzert sich mit Grobheit, äußerer Härte und radikaler Unzugänglichkeit.
Bis die Abläufe kulminieren und sich bei Nazermann durch einen Opfertod allmählich der Nebel lichtet. Die letzten Bilder zeigen ihn auf den Straßen von New York.
Steiger konnte locker die Inkarnation des Kotzbrockens darstellen, des cholerischen Autoritätsfanatikers und gespaltenen Intriganten mit tiefer Familienbindung. Er spielte den Ehemann von höllischer Vergeltungswut, den Western-Rowdy und den politischen Feingeist mit ausgeprägter Hybris.
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an Jean Gabin und Charles Laughton, an Simone Signoret und Isabelle Huppert.
Im Angesicht der z.B. bemerkenswerten Kunst der I.H. können meinetwegen alle gegenwärtigen Modeschauspielerinnen, deren Schönheit die Erscheinung von I.H.zweifelsfrei überragt, hinter die Leinwand treten, den Mund halten und Bockwurst essen.
Und auf der Leinwand agieren dann noch Isabelle Huppert und Kati Outinen, eine der bevorzugten Darstellerinnen Aki Kaurismäkis. Wenn ich an „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ denke, türmt sich bei mir sofort die Gänsehaut auf.

Nach Studien in verschiedenen Schulen, u.a. auch mit Marlon Brando in einer Klasse, spielte Rod Steiger bald am Broadway (Ibsens „Volksfeind“), debütierte bei Fred Zinnemanns „Teresa“ und erhielt eine Oscar-Nominierung für die Rolle des zwiespältigen Bruders Terry Malloys (Marlon Brando)in Elia Kazans „Faust im Nacken“. Wehalb der Originaltitel „On the Waterfront“ diese Übersetzung erhielt, erschließt sich mir nicht. Bei „Faust im Nacken“ denke ich irgendwie immer an John Wayne.
Jedenfalls für die damalige Zeit ein auffällig radikaler Film, der an originalen Schauplätzen von der Widerwärtigkeit gewerkschaftlicher Korrumption kündet.

Nach dem Pfandleiher bräuchte man keinesfalls den Regisseur zu wechseln, um unbescheiden anspruchsvoll die Filmstunden weiterzuführen.
Mit der Empfehlung von Lumets „Serpico“, „Nacht über Manhattan“ und vor allem „Die zwölf Geschworenen“ mit Henry Fonda, für mich ein überragender Streifen der Filmgeschichte, wird man keinen Zorn ernten.

„Waterloo“ (1969) von Sergej Bondartschuk.

Rod Steiger als Augenartist mit auffälliger Basedow-Tendenz, als zwergiger Welteroberer mit der Hand kurz über seiner französischen Nudel.
Außerdem mit Christopher Plummer und Orson Wells.
Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich diesen Streifen gesehen habe. Ich denke, er wurde am Beginn der 70er Jahre im Leipziger Filmtheater „Schauburg“ gezeigt. Sicher als Breitwand-Produktion.
Mein erstes Breitwanderlebnis gönnte ich mir Mitte bis Ende der 60er Jahre, „Die schwarze Tulpe“ mit Alain Delon, damals eine Sensation

„In der Hitze der Nacht“ von Norman Jewison, 1967

Gleichfalls Regisseur von „Cincinnati Kid“ mit Steve McQueen und dem göttlichen Edward G. Robinson.
Steiger fungiert zunächst als Über-Dödel, welcher der überragenden Intelligenz und der beispiellosen Erscheinung des schwarzen Kriminalbeamten (Sidney Poitier) nur dümmliches Unverständnis und Aggressivität entgegenbringt. Im Verlauf der Ermittlungen ändern sich die Dinge und zum Filmausklang trägt der weiße, grobschlächtige, unansehnliche, doch etwas geläuterte Rod Steiger dem schwarzen, feinsinnigen und ansehnlichen Sidney Poitier den Koffer zum Zug.

Wie Rod Steiger ständig mit seinen Sheriff-Zähnen auf Kaugummi herumdrischt, sich breitbeinig lärmend Autorität erarbeiten will und meisterhaft zwischen rassistischem Unfug, grober Ironie, unerwarteter Verlegenheit, aber auch Erstaunen und Scham pendelt, aufgelockert durch cholerische Intermezzi, erscheint mir in dieser Intensität nicht vergleichbar.

Aus heutiger Sicht wird man dem Film etwas Klischee-Bereitschaft bescheinigen. Doch sollte das Herstellungsdatum beachtet werden, eine Zeit, in welcher der Alltag Amerikas, zumindest im Süden, noch etwas anders geprägt wurde.

Der Film erhielt fünf oder sechs Oscars, u.a. für Rod Steiger, in diesem Fall kein Protest

Rod Steiger in „Amityville Horror“, von Stuart Rosenberg, 1979
Ein schönes Bild

Ich habe den Film nie gesehen und kenne von Rosenberg nur „Das Schiff der Verdammten“ aus den 70er Jahren, das Drama um jüdische Emigranten, die in den USA und Kanada abgewiesen wurden und wieder nach Europa zurückkehren müssen. Ich denke, der Film hat mich tief beeindruckt, obwohl ich mich nur noch an Faye Dunaway und Max von Sydow erinnere.

Rod Steiger agierte weiterhin als Komarovsky in „Doktor Schiwago“, als Mussolini in „Omar Mukhtar“ und spielte Louis Wormser in Chabrols bemerkenswerten Streifen „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen.“ Ein guter Film mit Romy Schneider, viele waren es ja nicht.

November 22, 2011 Posted by | Film | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Geschichten, die das Radio sendet, gedruckte Steine, das Röcheln der Steindruckerin, Heinos Bambi, Strawinskis Psalmen, Sofia Gubaidulina, Wagenknecht und Gottschalk, Holzfällen im Mendelssohnsaal und ein schreiender Hirsch in der Michaeliskirche

Geschichten, die das Radio sendet.

Pierre Soulages, Lithographie

Gestern im Deutschlandfunk.
Eine Sendung über aussterbende Berufe. Bäcker, Fleischer, usw. wurden angeführt. Eine Anruferin meldete sich als Steindruckerin, sprach von ihrer Misere, von nur noch einem Dutzend ähnlicher Einrichtungen in Europa.
Die Gesprächsleiterin fragte dann: „Und Sie drucken also Steine“. Ein kurzes Röcheln der Steindruckerin, dann: „Nein, wir drucken mit (von) Steinen!“
Ein kleiner Lapsus, kann ja passieren.
Doch dann kämpfte die „Grafik-Expertin“ vom Hörfunk um Haltung, um eine Korrektur dieser Ungeschicklichkeit und um den Anschein, zumindest mit Halbwissen imponieren zu können.

Sie fragte: „Das müssen dann aber ganz besondere Steine sein.“
Antwort der Steindruckerin: „Ja,ja, das sind besondere Steine.“

Frage: „Die Steine müssen ja auch aus ganz besonderem Material sein.“
Antwort: „Ja,ja, die Steine sind aus ganz besonderem Material…..“ u.s.w.

Danach verweigerten meine Ohren eine weitere Aufnahme.

Ich stutzte etwas über dieses europäische Dutzend. Doch Mitte der fünfziger Jahre wurde der Beruf des Steindruckers (Lithographie) von der Liste gewerblicher Ausbildung getilgt.
Doch an jeder Kunstschule gibt es ja mehr oder weniger tiefschürfende Instruktionen in die grafischen Künste, einschließlich Lithographie.
Deshalb meine kurzzeitige Irritation.

Kulturtipps für Zeitgenossen im Leipziger Umfeld, die nur mäßig interessiert, dass Heino seinen Bambi zurückgab (Titel der Bildzeitung).

Michaeliskirche. Leipzig-Gohlis, Beginn des vergangenen Jahrhunderts.
Ein durchaus gelungenes Konglomerat aus siebenhundert Jahren Kunstgeschichte.

Morgen, 13.11., Michaeliskirche Leipzig, 17 Uhr.
Konzert mit der Friedenskantorei u. Orchester unter Veit-Stephan Buding.

Programm:

Mendelssohn-Bartholdi: 42.Psalm „Wie der Hirsch schreit.“
Strawinski: „Psalmensinfonie.“
Kodaly: „Psalmus Hungaricus.“

Ordentliches Programm. „Wie der Hirsch schreit“ kenne ich aber nicht. Doch jetzt will ich endlich hören, wie der Hirsch schreit.
Jedenfalls keine Konzertliste mit Bach, Beethoven und Schubert oder Beethoven, Bach und Händel oder Mendelssohn, Brahms und Schumann oder Bach, Liszt und Händel oder Brahms, Liszt und Schubert oder Mendelssohn, Beethoven und Brahms oder Haydn, Bach und Beethoven oder Liszt, Haydn und Händel. Bei vorzüglicher Laune des Programmgestalters wird dann noch ein Stück Bruckners oder Mahlers eingeschoben.

Sofia Gubaidulina

Vor wenigen Tagen hatte Sofia Gubaidulina ihren 80. Geburtstag erreicht. Dafür interessierte sich keine Sau.
Hauptsache, man muss sich diesjährig vor lauter Liszt-Euphorie und entsprechender Konzerte dröhnend übergeben.
Das klingt dann wie die sinfonischen Dichtungen von Liszt.

Zumal Sofia Gubaidulina seit vielen Jahren in Deutschland wohnt, nicht in Norilsk oder auf einem verrottetem Schiff am Strand des Baikalsees. Die Aufmerksamkeit hätte also nur kurze Wege zurücklegen müssen.

Wenn aber z.B. James Last oder Achim Mentzel ihre Daseinsjubiläen feiern, sind sicher die Medienbuden wieder gut gefüllt.
Es ist ein Jammer.

Ein weiterer Kulturtipp für Zeitgenossen, die es nur mäßig interessiert, ob sich Sarah Wagenknecht als Nachfolger Gottschalks besser eignet als der Ururenkel von Rasputin oder Franz Beckenbauer.

Konzert „musica nova“, Leipziger Gewandhaus, Mendelssohn-Saal. 23.Novemmber,20 Uhr

Musik von Anton Webern, Morton Feldman und Gerhard Lampersberg mit dem Leipziger Ensemble Avantgarde. Friedhelm Eberle liest dazu Passagen aus Thomas Bernhards „Holzfällen.“

Die Musik von Lampersberg ist mir nicht recht geläufig. Er agierte jedenfalls als Antreiber der Wiener Avantgarde und hatte auch für Thomas Bernhard eine erhöhte Bedeutung.
Diese Verbindung mutierte dann zu einer ziemlich radikal ausgelebten Feindschaft und ich habe Lampersberg erstmalig durch Bernhards „Holzfällen“ zur Kenntnis genommen, bei einem „künstlerischen Abendessen“, während dessen Lampersberg als Auersberger durch Bernhards Sarkasmus zerteilt wird.

Ich hatte mir eine Gesamtausgabe von „Holzfällen“ käuflich erworben. Sieben Cd´s, Südwestfunk, 1994.
Diese Scheiben verlassen nie die erste Reihe auf meinen CD-Aufbewahrungsbrettern.

Thomas Bernhard. Sicherlich nicht immer der zuverlässige Garant für überbordende Symphatiebezeugungen.

November 13, 2011 Posted by | Leipzig, Literatur, Musik, Verstreutes | 1 Kommentar

Jürgen Henne und die unregelmäßig bearbeitete Serie: „Filme, die keine Sau kennt, außer Jürgen.“ Heute: „Freaks“ von Tod Browning (1932)

Freaks. Meine DVD, aus Amerika bestellt.

Scheinbar in Deutschland nicht erhältlich, dachte ich zumindest vor einigen Wochen.
Doch aktuell nun doch in Deutschland und Großbritannien käuflich zu erwerben. Wahrscheinlich war ich wieder zu blöd.

Vergangene Woche trottete ich durch Leipzigs größte „Saturn“-Bude. Natürlich nur bescheiden hoffnungsvoll, irgendein Scheibchen musikalischen oder filmischen Zuschnitts zu finden, welches ich freudvoll nach Hause tragen könnte und auf das meine Unterhaltungselektronik nicht mit einer offensiven Brechorgie reagieren und ihren Stromfluss unterbrechen würde.

Natürlich erwarte ich nicht, dass „Freaks“, „Stalker“ oder „Eraserhead“ mir an jeder Bockwurst-Ecke aufgedrängt werden. Auch nicht bei „Saturn“.
Mich interessieren aber diese kulturellen Entwicklungen und nebenbei kann ich meine masochistischen Nebengleise wieder einmal richtig ölen.
Doch derartig umfassend gebündelten Müll wie im „Geil ist Geil“-Stall, hatte ich nicht vermutet.Außerdem habe ich selten so eine beknackte Werbung zur Kenntnis nehmen müssen.

Ich neige eher zu Toleranz und kein Bud Spencer, keine Karl-May-Schinken oder Wallace-Verfilmungen, auch nicht „Ben Hur“ vom anderen Wallace, treiben mein Verständnis an die Schmerzgrenze.
Auch Harry Potter, der Herr der Ringe oder der zeitgenössische Vampir-Kram können mit meiner Sensibilität rechnen.
Doch ein derartiger Fundus an gespielter, gesprochener, inszenierter und gesungener Sülze erscheint mir deprimierend.
Deshalb Null Cent bei den Ausgaben, so schön und preiswert kann sich eine Prommenade durch mediale Simpelhütten entwickeln.
Und ich bewahre meine Geilheit für andere Situationen.

Ein schaurig „schönes“ Bild. „Freaks“ im Grünen

Szene aus „Freaks“ mit Hercules (Henry Victor), Cleopatra (Olga Braclanova)und Hans (Harry Earles).
Das Bild zeigt den Prolog zu einer der wundervollsten und unerträglichsten Szene der frühen Filmgeschichte.
In ihrer Intensität vergleichbar Mit Peter Lorres Schlussmonolog bei „M“.

Daisy während der Hochzeit von Hans und Cleopatra

Plakat

Der Film wird als Horror-Veranstaltung angepriesen. Kann ich nicht ganz nachvollziehen. Sicherlich sind Elemente dieses Genres nicht zu übersehen,wenn Horror etwas schlicht mit Grauen übersetzt wird.
(Ähnlich dürftig wie die Bezeichnungen Abenteuerfilm für „Stalker“ und Tierfilm für „King Kong“ in dämlichen Fernsehbroschüren)
Womöglich wurde von Browning nach „Dracula“(1930)ein ähnlicher Streifen erwartet, der sich bedenkenlos in die Rubrik Horror einordnen ließe.

Doch „Freaks“ bewegt sich weitgehend auf realen Ebenen, die natürlich Grauen nicht ausschließen.
Denn Browning meidet eine kompromisslose, gezielte, konzentrierte Hinwendung zum Schrecken „an sich“. Das Grauen ist real, nicht konstruiert. Natürlich verfremdet, überzeichnet Browning manche Abläufe. Ein Zirkusfilm mit emotionalen Kitschorgien, der den alltäglichen Horror in ein Rundzelt und ein paar Wohnwagen trägt und Aktion, Thriller, Komödie und etwas Horror-Dekoration vereint.
Das normale Programm mit Liebe, Gier, Geilheit, Vergeltung wird gnadenlos ausgebreitet.
Frieda, die Zwergin liebt Hans, den Zwerg. Hans, der Zwerg liebt Cleopatra , „normal“ gewachsen. Hercules, „normal“ gewachsen aber schön bekloppt, vögelt mit Cleopatra, sie ist schön, verwerflich und zum Kotzen. Cleopatra und Hans heiraten, des Geldes wegen. Der kranke Hans wird dann mit einer Medizin versorgt, deren Inhalt sich nicht auf Kamille und Pfefferminze beschränkt. Hercules lacht immer dämlich vor sich hin. Eine gängige, eigentlich unaufdringliche Story.

Doch bald kommt ein Kodex der Freaks zur Anwendung: Wer Einem schadet, schadet allen, oder so ähnlich.
Und schon geht es richtig los. Die Schlussszene ist dann der wahrhaftige Horror, aber etwas albern und durchaus entbehrlich.
Brownings Film lechzt nicht nach Anteilnahme und Mitleid. Denn eine erweiterte Anzahl dieser Menschen wurde mit einem bemerkenswerten Selbstbewusstsein beschenkt.
Die Darsteller wählte man aus verschiedenen Theatern, in denen der Exhibitionismus ihrer Andersartigkeit zur täglichen Verpflichtung und zur Existenzsicherung gehört. Die Behinderungen sind also unmissverständlich greifbar.

Während eines Galeriegesprächs mit einem einarmigen Künstler sprach ich leichtfertig von einer Behinderung. Der Herr wollte mir sofort mit seinem übriggebliebenen Arm an die Kehle. Doch wie feinsinnig soll man denn einen derartigen Zustand ausdrücken?

Jedenfalls haben die Schauspieler bei „Freaks“ sicher vor Ort schon ähnliche Situationen ertragen müssen. Sie sind also zumindest gewappnet gegen Vehöhnung, Erniedrigung und körperliche Zugriffe. Und die zwischenmenschlichen Abläufe sind in derartigen Miniwelten ohnehin mitunter recht gewöhnungsbedürftig.
Manchmal verirrt sich der Film in einem kleinen Nummernprogramm. Siamnesische Zwillinge, ein Mann ohne Unterleib,ein Darsteller ohne Extremitäten, der sich die Zigarette anzündet entfalten ein Potpourri ihrer Fähigkeiten, ihrer Normalität.
Sehr beeindruckend, doch vielleicht nicht notwendig. Zu plakativ.

Neben der Ausbildung berechtigter Zuneigungen zu den „Freaks“ birgt der Film aber auch die mögliche Gefahr, Distanz und selbst Hass zu verstärken und Vorurteile zu unterstützen.
Eine gnadenlose Rache, die Realisierung von Bonmots des Alten Testaments, die erbarmungslose Aufrechnung von Gier und Mordversuch mit Mord und Verstümmelung ergeben eine Patt-Situation der Symphatieanteile.
Wobei sich die Reaktionen dieser Randgruppe und deren lebensnotwendiger Kodex sich sozialpsychologisch doch unschwer erschließen lassen.
In Amerika und Großbritannien war der Film lange verboten, in einigen Bundesstaaten der USA scheinbar bis heute.
Er ist nicht synchronisiert. Die Originalsprache ist merkwürdig, angereichert mit einigen deutschen Zwischentönen.
Doch würde ich inzwischen eine synchronisierte Version ablehnen.
Denn gerade die Sprache agiert mit ihren phonetischen und rhetorischen Eigenarten der einzelnen Darsteller, besonders auch in Anbetracht des noch jungen Tonfilms, als außerordentliches Wirkungsmittel.
Im Zusammenhang mit verbliebenen Darstellungselementen des gerade abgelösten Stummfilms ergibt sich eine bemerkenswerte Melange hochwertiger Filmkunst.

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November 6, 2011 Posted by | Film, Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar