Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und Kulturtipps für die Zeit vor einem Fußballspiel und für die Zeit der Pause zwischen den beiden Halbzeiten, für die Zeit zwischen Beendigung der zweiten Halbzeit und dem Anpfiff zur Verlängerung, für die Zeit der Pause zwischen den beiden Verlängerungshälften, für die Zeit zwischen der Beendigung der Verlängerung und dem Elfmeterschießen, für die Zeit zwischen dem ersten Schützen der ersten Mannschaft und dem ersten Schützen der zweiten Mannschaft, für die Zeit zwischen dem zweiten Schützen der ersten Mannschaft und dem zweiten Schützen der zweiten Mannschaft…..für die Pausen bei der Wiederholung der ersten und zweiten Halbzeit, für die Pausen bei der Wiederholung der Pause zwischen zweiter Halbzeit und Verlängerung…..

Ich habe ja keine Einwände gegen ein rasantes, sportästhetisch kostbares Fußballspiel.
Und ich denke, dass bei diesem Europa-Turnier besonders die albanische Mannschaft als Außenseiter wesentliche Akzente gesetzt hat.
Ich verfolge auch jene und diese Halbzeit in privatem Ambiente, keinesfalls aber vor öffentlichen Leinwänden mit gefühlt vierzehn Milliarden Zeitgenossen, die mir die Wirbelsäule aufschrauben, meine Gehörgänge mit halbverdautem Bier zuspeien und meine Kleidung zu Putzlumpen und Handtüchern für bratwurstversaute Hände erniedrigen.
Da bin ich recht eigen, recht eitel und recht hypochondrisch

Doch für freie Minuten ohne zweiundzwanzig Rasenläufer, zwischen Nahrungszuführung und vollendetem Stoffwechsel könnte man sich z.B. einen Film gönnen.
Natürlich bestände auch die Möglichkeit, Spiele früherer EM-oder Weltmeisterschaften zu vertiefen, vielleicht Estland gegen Burma oder Hawai gegen Osterinseln. Die Mannschaft von Chiles Ozean-Terrain hätte wenigstens anständige Torpfosten.

Das „Casino“ im Leipziger Zentrum füllte in tiefen, finsteren DDR-Unzeiten die Lücke, in der sich Wünsche nach einem Kunstfilm in Maßen erfüllten.
Ich sah dort erstmalig „King Kong“, „Frankenstein“, „Dracula“, Murnaus „Nosferatu“, Bunuels und Dalis Hund aus Andalusien, Koyaanisqatsi mit der Musik von Philip Glass und selbst Disneys „Schneewittchen“.
Vor etwa vierzig Jahren erlebte ich im „Casino“ die russische Verfilmung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ des Jahres 1970.
Das Kino warb mit Thomas Mann: „Der größte Kriminalroman aller Zeiten.“
Zwei junge Männer verließen mürrisch und polternd während der Vorstellung den Saal und lamentierten: „Und sowas nennt sich größter Kriminalroman!“
Ich bewältigte die zweihundertundzehn Minuten ohne Ermüdung.
So unterschiedlich sind die Erwartungen vom „größten Kriminalroman aller Zeiten.“ Dostojewski oder Wallace,
Taratorkin oder Fuchsberger.
Ein Film, der sich eng an Dostojewski orientiert und ohne Mätzchen die Story um Raskolnikows Doppelmord ins Bild setzt.
Wenn ich mich des Kneipenmonologs von Marmeladow erinnere, legt sich eine lückenlose Gänsehaut auf meinen Leib.
Bei Amazon gibt es den Film als russisches Original mit deutschen Untertiteln.

Andrei Tarkowski

Und vor allem sah ich um 1980 im „Casino“ Tarkowskis „Stalker“, durchaus prägende Stunden für mein Filmverständnis.
Für derartige Streifen wurden nur wenige Aufführungen geduldet und genehmigt. Ich musste eine 10-Uhr-Vorstellung am Morgen eines Wochentages wählen und wurde nach über zweiundeinhalb Stunden vom Kinosaal wieder abgesondert und auf ein innerstädtisches, sonniges Sommerpflaster zwischen zahlreiche Passanten geworfen.
Selten entwickelte sich derart abrupt die Sehnsucht, mich in eine Eremitenhöhle zu legen, um einfach nur zu denken.
Außerdem verspürte ich über die Jahre nur eine arg begrenzte Neigung, diesen Film zu beschreiben.
Versteht ohnehin niemand.
Ich empfehle nur, „Stalker“ nicht zu versäumen, bevor man in die Kiste steigt.
Bei satter Zufriedenheit mit dem Film würde sich noch Tarkowskis „Andrei Rubljow“ zur Verarbeitung anbieten. Allerdigs mit zeitlichen Ausdehnungen von zwei Fußballspielen, aber ohne Poldi, Schweini, Neui, Klosi, Mertesacki, Badstubi, Ötzi…..

In meinen Jugendjahren, also kurz nach der Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen, gefielen wir uns, missliche Zustände, billige Abläufe, qualitätslose Ergebnisse in die sprachliche Formel „…..das gibts in keinem Russenfilm….“ zu kleiden.
Ich lege nachträglich eine heftig formulierte Protestnote ein und erweitere diese Wiedergutmachung gleichfalls auf die russische Literatur des 19./20.Jahrh., auf die russische Musik des 19./20. Jahrh., auf die Bildende Kunst Russlands des 19./20.Jahrh.

Die untreue Frau (1969), Claude Chabrol

Eine typische Szene in Chabrols Filmen.
Gutbürgerliches Ambiente mit solider Geschmacksgrundlage und Wahrung gesellschaftlich genormter Etikette.
Kultiviert und langweilig.
Die Abläufe dieses Films, begleitet von einer beängstigend lakonischen Sprache, mit Dialogen, in dennen nur beiläufig entscheidende Fragen gestellt werden, denen gelogene Antworten folgen, gleichfalls beiläufig, treiben mir den Schweiß in die Kniekehlen.
Die schier überragenden Leistungen der Darsteller (Stephane Audran, ein ständiger Gast bei Filmen Chabrols, Michel Bouquet), die Beschreibungen von Disziplin, von schmerzhaft strangulierten Emotionen, die Offenbarung von Zwängen, von Verletzungen, die niemand verkünden darf, treiben die Handlung zu einem kurzfristigen Gewaltexzess, dessen Ergebnisse dann wiederum unfassbar gezügelt und beherrscht, fast aphatisch beseitigt werden.

Chabrol zelebriert die kleinen mimischen und gestischen Unsicherheiten bei eigentlich festgezurrten Erstarrungen, die Irritationen und fast unbemerkten Veränderungen von sprachlichen Klischees und setzt eine Musik ein, die nicht nur als akustische Füllmasse die Abläufe dekoriert.
Chabrol vernetzt diese subtil verknoteten Stränge zu einer Gesamtpackung, welche den Zuschauer mit einer ordentlich geschüttelten Dosis Spannung und Aufregung versorgt, aber auch zur intellektuellen Anteilnahme verpflichtet.
Dazu bedarf es natürlich Schauspieler, denen nicht nur simple Gesichtsverkantungen und unkontrollierte Schlenkereien mit den Gliedmaßen zur Verfügung stehen.
Audran und Bouquet waren tatsächlich die erste Wahl.
Mit Filmen Chabrols kann man dann gleich die folgenden Monate verbringen.
„Der Schlachter“, „Das Biest muss sterrben“, „Die Phantome des Hutmachers“, „Die zweigeteilte Frau“, „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“, „Süßes Gift“….sind in jeder Hinsicht ertragreich.
Und bei Schauspielern wie Piccoli, Serrault, Trintignant, Huppert, Aznavour, Foster, Noiret, Bonnaire, Bouquet, Cluzet, Magimel….. jubiliert meine Cineasten-Seele.

Dem Vorschlag für ein russisch-französisches Filmfestival könnte der Hinweis folgen, zwischen Beendigung der Nachspielzeit und der Elfmeterschießerei eine kleine Violinsonate des Rumänen George Enescu einzuschieben (Die Rumänen haben ja auch einen ansehnlichen Fußball gespielt und sind unglücklich in der Vorrunde gescheitert)
Doch Enescu kennt hierzulande keine Sau.
Selbst meine Kenntnisse sind offenkundig etwas dürftig.
Ich hörte bisher ein Paar rumänische Rhapsodien und ein paar Violinsonaten.
Das Andante von Sonate Nr.3, reichlich acht Minuten, zwingt mich beständig in die Knie, mit verzückter Bodenberührung.

CD-Auswahl mit Musik aus dem 70-jährigen Leben Lou Reeds und aus dessen Umkreis (Velvet Underground, John Cale).

Am Sonnabend (30.6) gibt es Lou Reed am Königsufer in Dresden/Neustadt.
Ich weiß nicht, ob in diesen Stunden ein albernes Spiel um die EM-Drei ausgetragen wird, vielleicht dann doch mit Klosi, Lahmi, Hummi….
Doch meine Prioritäten-Entscheidung würde recht eindeutig ausfallen.
Denn ich hatte vor einigen Jahren Lou Reed im Berliner Schiller-Theater gehört und die Erinnerungen an das Konzert werden mich erneut in die Fänge seiner Musik treiben.

Diese Filme aus Russland und Frankreich, die Musik aus Rumänien und Amerika könnten notfalls auch außerhalb von Fußballpausen gehört und gesehen werden.
Einfach so.

juergenhennekunstkritik.wordpress.com

juergen-henne-leipzig@web.de

Juni 27, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und Tom Petty & the Heartbreakers in Hamburg, Juni 2012 und zeitgenössische Lyrik Norddeutschlands.

„Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins,
ob du´n Mädl hast oder Karl-Heinz.“

Ein markiges Beispiel norddeutscher Lyrik mit folkloristischer Grundtendenz.

————————————————————-

Natürlich nicht die Reeperbahn, aber die O-2-World-Halle in Hamburg.

Wenige Minuten vor dem Konzert Tom Pettys & the Heartbreakers.
Im Grunde ausverkauft, über 10 000 Zweibeiner. Hätte ich nicht gedacht, denn irgendwie ist die Musik doch von vorgestern.
Aber auch ich gönnte mir diese reichlich zwei Stunden und habe den Weg von Leipzig an die Nordsee nicht gescheut.

——————————————————

Die Farben Tom Pettys

Tom Petty, vorn, mit Gitarre

Tom Petty, vorn, mit Gitarre

Tom Petty, vorn, mit Gitarre

Tom Petty, keineswegs vorn, trotzdem mit Gitarre

Tom Petty hatte natürlich nie diese Eruptionen in mir forciert, wie es z.B. Led Zeppelin vermochte. Oder auch die Kreise um Eric Burdon, Stevie Winwood, Zappa, C.Beefheart, John Cale, Lou Reed, Brian Eno, aber auch Bowie und Brian Ferry.
Dennoch verfolgte ich hellhörig Pettys Musik, inzwischen nun über fünfunddreißig Jahre.
Als erste Scheibe, neben Musik der Rolling Stones und War (mit Burdon), erwarb ich 1978 in dem bekloppten Intershop im Leipziger Hauptbahnhof „You`re Gonna Get It“, überhaupt die zweite Platte in Pettys OEvre.
Und mit „Listen To Her Heart“, eben aus „You`re….“ eröffnete die Truppe das Konzert vor einigen Tagen in Hamburg
Ein feiner Titel. Kurz, simpel, einfach schön.
In diesem Zusammenhang denke ich z.B. auch sofort an „Teenage Kicks“ der Undertones. Ein Song von zwei Minuten und zwanzig Sekunden. Kurz, simpel, einfach schön und unübertrefflich, in 2.20 Min., eine ordentliche Leistung.
Aber auch Tom Pettys Lieder haben keine Pink-Floyd-Dimensionen, werden aber bei Konzerten scheinbar immer etwas erweitert.

Walk of Fame, Los Angeles

Tom Petty & the Heartbreakers sind jeder Kasperei abhold, ohne aber durch routinierte Sterilität zu einer erweiterten Apathie im Saal beizutragen. Sie machen einfach Musik, bis das Publikum vor Begeisterung sich dem Koma nähert. Mir ist fast keine Formation erinnerlich, die derartig freudvoll, ohne Firlefanz und dümmliche Anbiederungen („Hamburg hat die schönsten Mädchen“ und ähnliche Sülze, habe ich alles schon erlebt) ihre Töne zwischen die Besucherköpfe fegt.
Hin und wieder wechseln die Bühnenfarben (s.o.) oder eine Danksagung von oben reagiert auf den wohlwollenden Jubel von unten. Alles entspannt.
Und so rotieren nun „Learnig To Fly“, „I Won´t Back Down“, „Free Fallin´“….zwischen den Wänden. Bei „Good Enough“ und „It´s Good To Be King“ konnte Leadgitarrist Mike Campbell einige private Sonderaktionen realisieren. Der Schlagzeuger Steve Ferrone wirbelt auf den Kisten herum, dass der Schweiß mir die Rippen aufweicht, mit der Schlag-Frequenz der Flügelflatterei eines jubelnden Kolibris prüft Ferrone anhaltend die sicher hochwertige Qualität seiner Gerätschaft.
Diese Schnelligkeit der Armbewegung bleibt mir ein Rätsel. Bei Selbstversuchen scheiterte ich im Vergleich zu Ferrone auf der Ebene der Reaktionsgeschwindigkeit eines vollgefressenen Tapirs.

Einige Titel vom „Mojo“-Album, vor zwei Jahren erschienen und unbedigt hörenswert, sollten bei dem Konzert vielleicht neue Tendenzen andeuten. Deuteten sie aber nicht. Alles wie immer. Diese Mischung aus bluesigen Traditionen, folkloristischer Dekoration und rockiger Ausführung hat sich nun seit fast vierzig Jahren nicht wesentlich geändert.
Nichts dagegen zu sagen. Tom Petty blieb damit auch seit vierzig Jahren bei einer hohen Qualität.
Ich mag natürlich auch die gnadenlosen Verschwurbelungen der eigenen Musik. Bei Bob Dylan erkennt man eigentlich keinen Song wieder, wenn er auf der Bühne vorgertragen wird. Dylan kräht und kreischt und röhrt mit einem Wiedererkennungsquotienten, der gegen Null tendiert.
Auch nichts dagegen einzuwenden.
Bei einem Konzert Dylans wollte meine Nachbarin, eine Dame mit gealterten Feuchtschritt, „Blowin` in the Wind“ in originaler Version von 1963 hören, möglichst mit Akustikgitarre.
Bei Dylan gibt es da keine Chance. Gott sei Dank!
Und die Frau nölte und nölte. Als ich ihr vorschlug, sich doch eher mit Konzerten Roger Whittakers zu begnügen, beleidigte sie mich und nölte und nölte….die Nölerei hörte nimmer auf und sie verließ die Halle sicher mit gealterten Trockenschritt.

Bemerkenswert war der Beitrag Tom Pettys zur Musik von Fleetwood Mac. Er interpretierte deren „Oh, Well“, ein Edelsong aus Zeiten, in denen Fleetwood Mac noch nicht, u.a. durch den Einfluss des kürzlich verstorbenen Bob Welch, mitunter zur Schlagertruppe mutierte.

Außerdem gab es noch ein Tribut an Roy Orbison und Georg Harrison, mit denen sich Tom Petty für zwei Jahre, neben Bob Dylan und Jeff Lynne (Move), zu Traveling Wilburys vereinigte (1988-90).
Diese „Zusammenrottung“ hochqualifizierter Musiker produzierte zwei Alben, die ich auch heute noch mit stabilen Wohlgefühl höre.

Zumal Roy Orbisons „Oh, Pretty woman“(1964) mich im vorpubertären Stadium mit einer Vehemenz in die Welt der rockigen Töne zog, wogegen Poes Mahlstrom wie eine dilletantisch eingestellte Abortspülung tröpfelte.
Beethoven, Liszt, Chopin kannte ich schon, jetzt waren Orbison, Lennon, Jagger an der Reihe.

Die Reisen nach Pretoria oder Wladiwostok würde ich wegen eines Konzerts mit Tom Petty & the Heartbreakers sicherlich nicht wagen.
Doch bei einer Einladung in den mitteldeutschen Raum werden sich meine zwei Zentner mit Sicherheit vor der Bühne aufstellen.

juergenhennekunstkritik.wordpress.com

juergen-henne-leipzig@web.de

Juni 20, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Geschichten, die das Jürgen und die Sprache schreiben

Auf Hennes Balkon

Während eines Gesprächs vor wenigen Minuten im Deutschlandfunk über irgendein Volleyballspiel Deutschlands gegen Kuba formulierte der deutsche Trainer im Angesicht des Verzichts der kubanischen Mannschaft auf vier wichtige Spieler:

„Dieser Gegner ist jetzt nicht unmachbar.“

Ich begann zu schluchzen.

Juni 9, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar