Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und zwei Filme unserer eidgenössischen Nachbarn. Heute „Höhenfeuer“ (1985) und in Bälde vielleicht „Winterdieb“(2012). Aus der eher unregelmäßig bearbeiteten Serie: „Eher neue, eher nicht mehr ganz neue, eher noch nicht ganz alte, eher ältere, eher ziemlich alte, eher hornalte, eher saumäßig alte Filme – neu gesehen“.

„Höhenfeuer“ (1985) von Fredi M. Murer

Anders als die österreichischen Filmemacher, deren Ergebnisse, zumindest auf deutschprachigem Terrain, eine durchaus stabile Akzeptanz vorweisen können, Haneke und Seidl sollten sich dabei aktuell als zentrale Akteure anbieten, aus Urzeiten auch die gebürtigen Österreicher Kortner, Lang, Wilder, Zinnemann, die man aber im internationalen, auch überseeischen Rahmen einordnen muss, würden die Finger einer Hand genügen, um meine spontane Aufzählung schweizerischer Filme der vergangenen Jahrzehnte zu fassen. Vielleicht auch noch zwei Finger der anderen Hand. Wer weiß das schon. Urs Egger als Regisseur fiele mir einigermaßen zügig ein.

Und natürlich „Höhenfeuer“ (s.u.) und „Winterdieb“ von Fredi M. Murer bzw. Ursula Meier

Wenn man locker und unbeschwert bei gegenwärtiger Literatur, bei Theater und Film vollendete oder zumindest halbierte Parallelen zur griechischen Tragödie beschwört, wäre es möglich, dass die Zuhörer ihrem Gesprächspartner eine gewichtige Weisheit bescheinigen und beachtliche Wertschätzung zollen.
Ich benötige derartige Strategien nicht mehr, komme aber bei Fredi M. Murers Film „Höhenfeuer“ nicht an der Gewissheit vorbei, eben diese Traditionslinien in das antike Griechenland ziehen zu müssen.

Der Handlungsort wurde irgendwo in der zentralen Schweiz angesiedelt.
Auf einer abgelegenen Alp agieren der Vater, nicht gerade ein Toleranz-Tornado, die Mutter, sowie Tochter und Sohn, seit der Geburt taubstumm, der schon mal gern Kofferradios in Jauchengruben schmettert und Kühe mit aufgespannten Regenschirmen belästigt.

Isoliert suchen die Pubertierenden die Bewältigung dieser Beschwernisse, finden in der Einsamkeit als Lösung nur die geschwisterliche Extremannäherung, die in einer Schwangerschaft kulminiert.
Der Vater rastet aus und die Geschichte endet im Fiasko griechisch-antiker Tragödien des 5.Jahrh. v.u.Z., zumindest weitgehend.

Das Spiel beginnt mit der Nahaufnahme von zwei Maulwurffallen und den entsprechenden Inhalten. Die Opferzahl wird sich am Ende des Films wiederholen, allerdings ohne Maulwürfe. Ich neige eher nicht dazu, bei jedem farbigen Schnürsenkel eine unverzichtbare Symbolik zu vermuten.
Doch ist „Höhenfeuer“ reich gesegnet mit allegorischen Bildern, Symbolen und Riten, die außerhalb der Schweizer Bergwelt mitunter nicht leicht zu entschlüsseln sind.
Trotz mancher regionaler Besonderheiten verblüfft die Story aber dennoch durch den hohen Grad von Allgemeingültigkeit, eben hornaltgriechische Tragödien-Tradition.

In langen Einstellungen und einer fast schmerzhaften Genauigkeit werden die täglichen Verrichtungen auf der Alp zelebriert, wobei der Nahrungszubereitung und dem Verzehr dieser Ergebnisse ein erhöhter Stellenwert zugemessen wird. Das Interieur ist weitgehend abgedunkelt und wird von einer kargen, präzisen Kommunikation ausgefüllt, die in ihrer Schlichtheit aber auch existenzielle Fragen bereithält.
Für den Vater ist körperliche Arbeit die einzige Möglichkeit, das Leben zu bewältigen. .
„Die fressen alle mehr, als was sie schaffen, da unten“ (Filmzitat). Außerhalb seiner überschaubaren Alp-Quadratmeter scheinen für ihn „da unten“ nur noch die Schweinigels in der Tradition der Einwohner Sodoms und Gomorrhas vor sich hin zu sumpfen.
Und so wird auch der Sohn das „Steinespalten“ als wichtige Aufgabe innerhalb seines Pubertätskampfes empfinden.
Dabei wird die familiäre Bindung durch solide Emotionen und gehobene Zuneigung gezeichnet und es ergeben sich innig ausgelebte Episoden (z.B die erste Rasur des Knaben mit Vaters Unterstützung).
Immer wieder wird das verschlossene und geöffnete Fenster als künstlerisches Bild eingesetzt und erhält in den letzten Filmszenen eine verstörende, poetische, aber konsequent abgeschlossene Bedeutung.

Murer verzichtet weitgehend auf die Vorführung monumentaler Gebirgspanoramen und verlässt sich auf die Wirkung des Details, auf eine sparsame, dennoch durchaus bedrohliche Filmakustik und eine edle Farbigkeit, die auch durch krasse Akzente bereichert wird.

Mitunter entwickelt er skurrile Abläufe.
So übernachten Tochter und Sohn auf der Alp, entfernt vom Elternhaus, bedeckt mit einem voluminösen Federbett und bald freigelegten Gesäßen und anderen Körper-Regionen unter sternigem Himmel und auf gleichfalls nacktem Boden.
Nach dem Finale überfliegt ein Hubschrauber mit Kuh im Gepäck die Alp.
Doch die erotischen Ouvertüren und sexuellen Irritationen werden von Murer ohne Geschwätzigkeit, Voyeurismus und ohne skandalträchtige Szenerien abgedreht.

Belli und Bub verbindet eine tiefe Zärtlichkeit, in einer ignoranten Welt, die keine Auswege anbietet. Der Junge erhält im gesamten Film keinen privaten Namen und wird ständig mit „Bub“ angesprochen, eine durchaus bemerkenswerte Nuance in diesem sozialen Gefüge mit markanter Kontaktlosigkeit zur Außenwelt. Denn der „Bub“ ist, wie die Restfamilie, nur über etwas obskure Kommunikationsmöglichkeiten und über die Distanz von einigen hundert Metern, vielleicht auch Kilometern mit den Großeltern verbunden.

Im Film wird Schweizerdeutsch gesprochen, von hochdeutschen Untertiteln begleitet.

„Höhenfeuer“ erhielt 1985 den Goldenen Leoparden auf dem Filmfestival in Locarno und wurde als Kandidat für den Oscar als bedeutendster fremdsprachiger Film über den Ozean geschickt. Er überwand nicht einmal die Nomierung, interessierte dann eben doch keine Sau. Ich will jetzt nicht nachschlagen, welcher Streifen sich 1985 den Oscar zwischen die Filmrollen schieben durfte, ich mag keinen Mittwochs-Ärger.

Über „Winterdieb“ werde ich vielleicht in Bälde ein paar wichtige Sätze notieren.

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März 30, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und ARTEs erneute Provokation, die großzügig meine Kultur-Empfehlungs-Euphorie beflügelt

Teil meiner recht üppigen Fellini-Sammlung. „La Strada – Das Lied der Straße“ (1954) mit Anthony Quinn und Giulietta Masina.

Heute, Montag, auf Arte 20.15. Uhr. Als mögliches Gegengewicht zu den ständigen „Polizeiruf 110“-Wiederholungen aus dem 15.Jahrh. mit Chef-Ermittler Heinrich Kramer.

Nach meiner Empfehlung zu „Caché“ vor einigen Tagen nun ein ungezügelt vorgetragener Hinweis auf „La Strada“.

Es gibt nur wenige Filme, die mich mit dramaturgischer, schauspielerischer Makellosigkeit und einer filmästhetischen Vollendung derartig bewegt haben wie diese cineastische Vorstellung von Federico Fellini.

Eigentlich nerven mich Tabellen wie „Die besten……aller Zeiten“, doch betone ich meinen Willen, „La Strade“ ohne Not in die Top Ten aller Ewigkeiten einzuordnen.

Ich würde nicht sagen, dass dieses Cover (oben) misslungen ist, es erscheint mir aber für Ablichtungen nur bedingt geeignet, zumindest mit meiner Fotografen-Ausrüstung.

ARTE BRINGT`S

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März 21, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, ein Zufall und ein sich daraus ergebender Film-Tipp

Im meinem Text vom 11. März schrieb ich ein paar kluge Gedanken über Michael Hanekes „Caché.

Dieser Film wird nun zufällig heute (Sonntag) auf Arte, 20.15. Uhr angeboten. Man sollte diese Offerte positiv wahrnehmen und für zwei Stunden Leckerlies wie Bozen-Krimi, Zürich-Krimi, Kroatien-Krimi, Usedom-Krimi, Elfenbein-Küste-Krimi, Antarktis-Krimi…. und Tatort – Wiederholungen, z.B. aus dem 15.Jahrhundert mit Robin Hood in der Hauptrolle, in den Testbild-Status schieben.

März 20, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die eher unregelmäßig geführte Serie „Filme – neu gesehen – alte Kritik in neuem Gewand“. Heute: „Caché“ von Michael Haneke

Dreifilmiger Baustein meiner mittelmäßig üppigen Michael-Haneke-Sammlung.

Neben seinen, doch redlich populären Filmen, z.B. „Funny Games“, „Die Klavierspielerin, „Das weiße Band“ und „Liebe“ wurden die Filme dieser Trilologie eher nur am Rand wahrgenommen, sollte man zumindest individuell ändern.

Es gibt Regisseure wie Michael Moore, die durch ihre penetrante Schuldzuweisungspsychose ohne Differenzierungen und Abstufungen, aber mit pubertärer Draufklopper-Mentalität nerven. Und es öden Filme an, in denen familiäre Konflikte im emotionsduseligen Gelee versickern oder als Poesie-Alben in Hardcore-Version über Leinwände und Bildschirme ätzen, mit Versöhnungs-Fickerei-Garantie.

Außerdem gibt es noch Michael Haneke und seinen Film „Caché“ von 2005. Hier wird vor dem gemeinen Filmkobold eben nicht die Leinwand mit der grob geschnitzten Politkeule moraltauglich straff gezogen, im Zusammenhang mit dem Terror gegen algerische Demonstranten vor über sechzig Jahren in Paris.

Auch die allmählich kulminierenden Disharmonien, die Erregungen und Kränkungen im familiären Alltag zerspringen nicht in einer Volldröhnung plakativer Gefühlsexzesse. Reduziert, lakonisch, mit emotional- dokumentarischer Einsilbigkeit, mit großartig gesetzten Dialogen und wundervoll nervenden Endloseinstellungen zelebriert Haneke eine Bedrohung, die man ernst nehmen sollte. Der Durchblick in die unterschiedlichen Realitätsebenen muss vom Kinogänger hart erarbeitet werden. Zeiten und Orte zur Offenlegung politischer Entgleisungen, zur Andeutung individueller und kollektiver Schuld dosiert Haneke präzis und wirkungssicher.

Und dann wären natürlich noch die Schauspieler. Juliette Binoche spielt gut. Der Einsatz von Superlativen für die Leistung von Daniel Auteuil wäre eine angemessene Reaktion. Und Annie Girardot. Sie agiert nur kurz, im Rollstuhl, im Bett, redet etwas, bewegt die Arme. Sie mach also fast nichts. Doch dieses „Nichts“ ist bemerkenswerte Schauspielkunst. Haneke hatte sie schon neben Isabelle Huppert in „Die Klavierspielerin“ eingesetzt.

Einschub: Weshalb Isabelle Huppert bislang keinen Oscar erhielt, erschließt sich mir nicht. Eine einzige Nominierung kann sie bislang in ihrem Tagebuch verzeichnen ( 2017 als beste Hauptdarstellerin in „Elle“, wurde aber von Emma Stone für ihren Beitrag in „La La Land“ verdrängt). Erscheint mir etwas wenig.

Meryl Streep ist dagegen dreimalige Academy-Award-Preisträgerin und wurde 21x nominiert. Erscheint mir wiederum etwas reichlich. Natürlich gebührt Meryl Streep eine angemessene Würdigung, aber ebenso Isabelle Huppert. Man könnte natürlich auf Streep als Angehörige der nordamerikanischen Filmkultur verweisen, also ein Heimsieg sozusagen. Doch Christoph Waltz konnte sich , völlig zurecht, innerhalb bemerkenswert kurzer Zeitabstände zwei dieser Gurken in die Tasche stecken. Und er ist Wiener.

Nach Isabelle Hupperts Auftritt als zickig-hysterische Nerotikerin mit rotkariertem Lappen am Körper in Ozons Film „8 Frauen“ hätte man zumindest über eine zweite Oscar-Nominierung nachdenken können, hat man aber nicht.

Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) sendete gestern diese Performance eines weiblichen Oktetts. Und ich spürte, meine Freude an diesem Streifen verliert nichts an Intensität. Außerdem war ich verwundert, dass diese Anstalt auch ansehnliche Programme anbieten kann.

Ende des Einschubs

Entbehrlich ist die Epsode der nächtlichen Abwesenheit des Sohnes der beiden Hauptakteure und dessen Glaube an Unterleibsreibungen zwischen seiner Mutter und einem Familienfreund.

Doch diese Minuten werden verstreichen und man ist wieder von einem Film gebannt, dem Kino mit ähnlichem Anliegen qualitativ nur nachhecheln kann.

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März 11, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar