Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, die Irritationen des Tages, das Mehl für Schweinsohren, Ulf Heise, Carl-Christian Elze und unsere „klügsten, ungewöhnlichsten und talentiertesten zeitgenössischen Dichter“

Erste Irritation
Öffentlich angebotene Ratschläge für den Umgang mit häuslicher Gewalt auf nachbarlichen Arealen,

Diese Botschaft (Bild unten) wurde am linken Ojekt des Säulenpaares im Mittelgrund befestigt, Straßenkreuzung mit Ampel (Bild oben).
Ich nutze Rotphasen immer wieder gern zu einer interessierten Kentnisnahme dieser Notizen.

Diesmal versäumte ich eine Grünphase, weil ich über mögliche Reaktionen spekulierte, die meine Frage bei einer schreienden Familie nach Mehl auslösen könnten.

Ich kam zu dem Ergebnis, dass ein Mitglied der schreienden Nachbarn nach meiner Bitte sicherlich immer noch nicht gutlaunig mit einer hübschen, fein dekorierten Mehlschüssel erneut an der Tür auftreten, sondern eher unter dem feinnervigen Ruf „Verpiss dich, du Sackgesicht“ mit einer blutigen Machete, vielleicht auch einer Axt, nach meinen Ohren züngeln würde.

Und nach meinem Hinweis, dass ich doch nur zwei Schweinsohren backen möchte, würde mein linkes Ohr vielleicht spontan im Treppenhaus liegen, vielleicht auch das rechte.
Oder beide.

Und damit gelang mir ganz locker die schmerzhafte Hinwendung zu David Lynchs „Blue Velvet“.
Aber das ist eine andere Geschichte, Filmgeschichte sozusagen.


LVZ vor einigen Tagen

Zweite Irritation

Ulf Heise beschreibt die Lyrik Carl-Christian Elzes, erschienen in der Reihe „Poesiealbum“ (Nr.353).
Er feiert ihn als Nachfahre von Sarah Kirsch.
Findet auch innere Verwandschaften zu Heidegger.
Kürt ihn zu einem König der Wortsymbole und Vokabelalchimisten.
Er ordnet ihn in die Kategorie der „klügsten, ungewöhnlichsten und talentiertesten zeitgenössischen Dichter“ ein.

Ich schnaufte beeindruckt und leicht asthmatisch und erwartete große Literatur.

Und dann las ich:
„die erde ist ein kugelförmiges Raumschiff mit einhundertsiebentausend / kilometern pro stunde kreist sie um einen brennenden / gasball wie eine mücke um ein teelicht in einem / windstillen schwarzen wald (s.o.)

So schreibt also ein Nachfahre Sarah Kirschs.
Oder wie ein König der Wortsymbole und ein königlicher Vokabelalchemist.
So schreiben also unsere klügsten, ungewöhnlichsten, talentiertesten zeitgenössischen Dichter.
Dachte ich.

Sie schreiben von der Erde als kugelförmiges Raumschiff, das wie eine Mücke im schwarzen Wald um ein Teelicht kreist.

Ulf Heise zitiert noch weiter aus dem Lyrikheftchen des Königs der Wortsymbole, von einem der ungewöhnlichsten zeitgenössischen Dichter.

Er jubelt von einer Frau als „Augenstern“, der nicht gebührend geputzt wurde und von der gleichen Frau als „Seelenvogel“, der nicht gefüttert wurde.

Augenstern und Seelenvogel – meine Atmung röchelt heftiger.

Auch schwelgt Heise von Elzes Zellkern als Aktenschrank, als Amtsgebäude ohne Beamte und von dem Zustand, das es keine Akte gibt, die es eben in diesem Kern nicht gibt.

Ach so, jetzt weiß ich Bescheid, meine Atmung röchelt ruhiger.

Ich überlegte, in welche Kategorie ich diese Lyrik einordne und entschied mich unverzüglich für eine Anhäufung unerträglicher Belanglosigkeiten, schon tausendmal gelesen und sicher auch an den Höhlenwänden im spanischen Altamira verzeichnet.

Ich fühle mich bei diesem „sprachliche Bild“ einer Erde unterfordert, die als kugelförmiges Raumschiff wie eine beknackte Mücke um ein Teelicht in irgendeinen beknackten Finsterwald kreiselt, durchaus ein Grund, mich auf hohem Niveau zu ärgern.

Ich grüble schon seit langen Zeiten, wie leichtfertig Lorbeeren vergeben werden.
Denn es kann nicht sein, dass man 2020 das sprachliche Bild einer Erde, die sich als kreisförmiges Raumschiff wie eine Mücke um ein Teelicht rollt, als große zeitgenössische Lyrik anbietet (Einschließlich der anderen Beispiele im Zeitungstext, die Ulf Heise sicher als besonders wegweisend beurteilt.)

Ich werde meine auffällig kleine Sammlung der Reihe „Poesiealbum“ nicht mit Nr.353 erweitern.
Wenn doch, sollen mich alle Mücken heimsuchen, die in windstillen Wäldern um ein Teelicht wehen.
Da lese ich doch eher meine eigenen Dichtungen.

Musik des Tages

Peteris Vasks
Musik für Cello, z.B. mit Sol Gabetta

Irgendein Komponist sagte , dass ein Cello nur in mittleren Lagen schön klänge, ich vermute Dvorak.
Bei Vasks und Gabetta klingt es in allen Lagen schön.


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Mai 29, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Michel Piccoli, Alvin Lucier und ein Liebhaber und ein Mörder und ein Papst

Zum Ableben Michel Piccolis gestern in der abendlichen Tagesschau:

„Er spielte den Liebhaber, den Mörder und den Papst.“

Eine markante und schnörkellose Linie.
Man hätte ja auch etwas weitschweifiger formulieren können, z.B.:

Er spielte den Liebhaber, den Innenminister, einen Schriftsteller, den Mörder, den Präfekten, einen Maler und den Papst.
(Rollen, die Piccoli tatsächlich übernommen hatte.)

Hätte sicher etwas besänftigender gewirkt, zunächst der Liebhaber, gefolgt von Innenminister und Schriftsteller, danach hätte man natürlich einen Mörder einschieben können, darauf Präfekt und Maler, abschließend den obersten Vatikan-Bewohner.

Liebhaber-Mörder-Papst.
Wie im richtigen Leben, könnte jetzt manch militanter Atheist sagen.

Liebhaber-Mörder-Papst.
Böte sich zumindest als Vorlage für die eine oder andere, auch bösartige Assoziationskette an.

Liebhaber-Mörder-Papst.
Besonders hämische Geister von ausgesuchter Boshaftigkeit könnten jetzt herauskreischen, dass Piccoli immer ähnliche Rollen bevorzugte.

Für die Aufnahme in eine heitere Journalismusgeschichte oder in eine gleichfalls heitere Kirchengeschichte aber vorzüglich geeignet.

Drei Filme von Godard, Ferreri und Hitchcock, mit Michel Piccoli.
Außerdem mit Mastroianni, Tognazzi, Noiret, Brigitte Bardot, Palance, Fritz Lang und Karin Dor.

Musik des Tages

Alvin Lucier

Piano und Magnetic Strings


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Mai 20, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, zehn Tischtennisplatten, Pinguine über der Lifaßsäule, Mundnasenschutz, Nasenaugenschutz, Mundnasenaugenschutz, die Kollision mit einem Tapir und Bodo Babirusas Kopfschmuck

Wenn eine derartige Veranstaltungswerbung z.B. im DIN A4-Format vor der eigenen Haustür keimen würde, wäre Ärger eine angemessene Reaktion, als Folter würde man diese Belästigung aber sicher nicht spüren.
Möglich wäre ja auch, das Paket mit den Füßen vor die Haustür nebenan zu schieben.

Auch die Bekleisterung einer Litfaßsäule mit diesem und ähnlichem Faxenlärm nervt nicht grundsätzlich.
Und man könnte sich ja für einige Sekunden abwenden und den Himmel nach Mauerseglern absuchen.
Oder nach Pinguinen.

Aber als kultiviert-spießiger Zeitgenosse, der sich doch regelmäßig einer Haltestelle für öffentliche Verkehrsmittel, der Bank seines Misstrauens, seinem Lieblingsbäcker und anderen Einrichtunge des täglichen, doch zumindest des wöchentlichen Bedarfs nähern muss (einschließlich Briefkasten) empfinde ich durch die Aufdringlichkeit dieser Werbelappen eine ausufernde Bedrohung.

Denn diese Fläche, gefühlt das 10fache einer Tischtennisplatte, hängt an einem Eckhaus und malträtiert mich auf meinem Heimweg, gleichgültig aus welcher Himmelsrichtung ich mich an dieser optischen Zumutung vorbeiquäle.
(Ecke Gohliser Straße/Fritz Seger-Str., unweit von Gohliser Schlösschen, Schillerhaus, Gosenschenke).

Es bestände natürlich die Möglichkeit, sich den Mundnasenschutz auch über die Augen zu schieben, doch wird dann mindestens der Mund freigelegt, womöglich auch die Nase und der Mundnasenschutz verlöre seine ursprüngliche Funktion.
Außerdem heißt er ja Mundnasenschutz und nicht Nasenaugenschutz oder Mundnasenaugenschutz.

Und ich würde auch die Gefahr nicht ausschließen, bei dem Einsatz eines Nasenaugenschutzes oder eines Mundnasenaugenschutzes mit einem Gohliser Tapir oder einem Babirusa zu kollidieren.

Und nach einer Kollision mit Babirusas Kopfschmuck dürfte ich zukünftig weder einen Mundschutz, einen Mundnasenschutz noch einen Mundnasenaugenschutz benötigen.
Denn MundNaseAuge wird es danach nicht mehr geben.

Babirusas leben ausschließlich auf Sulawesi, im Leipziger ZOO gab es einige Tiere und jetzt vielleicht nur noch das Gohliser Exemplar, mit dem ich vielleicht kollidieren würde, wenn ein Nasenaugenschutz oder ein Mundnasenaugenschutz mein Gesicht bedeckt.

In der Hierarchie-Tabelle der hässlichsten Erdwesen kämpft Bodo Babirusa wacker um vordere Plätze.
Es gelingt ihm vorzüglich.

Aufgemerkt, dieser Wandbehang kündet von einer Veranstaltung, die schon am 31.Dezember 2019 endete.



Und nun ein fotografischer Spaziergang auf den Wegen meiner Heimkehr (17.Mai 2020), psychisch erheblich gefordert durch die Unausweichlichkeit dieses optisch-ästhetischen Notstands in Hintergrund, Mittelgrund, Vordergrund.














Musik des Tages

Aus der „Edition zeitgenössische Musik“

Carola Bauckholt

U.a. „Treibstoff“ für Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabaß, Klavier und Schlagzeug
„Zopf“ für Flöte, Oboe und Klarinette
„Sottovoce“ für zwei Violoncelli

Dieses „Klingt gut“ habe ich nicht geschrieben, gehört zur Cover-Gestaltung.

Ulrich Stranz

U.a. „Janus“ für Violine, Klavier und 13 Bläser
Klaviertrio für Violine, Violoncello und Klavier


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Mai 18, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar