Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und die alltäglichen Irritationen – Ziemlich beste Freunde, Im Westen nichts Neues und im Westen was Neues, 196 + 4 = 200 und Beet oder Wiese

LVZ, 22. März 2023

Detail

Erste Irritation

„Ziemlich beste Freunde“. Abgesehen davon, daß die aktuell politische Beziehung zwischen Putin und Xi Jinping mit diesem geschriebenen Dödel-Plagiat keineswegs korrekt wahrgenommen wurde, das kann man aber beim heutigen Journalismus scheinbar halten wie Dachdecker, frage ich mich besorgt bis empört, weshalb ich fast täglich genötigt werde, diese sprachliche Puma-Pisse lesen, hören oder sehen zu müssen.

Bei einem, weniger ziemlich besten, eher ziemlich durchnittlichen Film aufgelesen, der mich vor über zehn Jahren behelligte, nölt sich diese Wortgruppe bis zum heutigen Tag durch alle Bereiche journalistischer Informationen.

Und Zeitgenossen, die intellektuelle Meisterstücke wie „ziemlich beste Feinde“, „ziemlich beste Gegner“, „ziemlich beste Nachbarn“,“ziemlich beste Frettchenzüchter“,… nachliefern, erwarten dann erregt, dass ihnen die Kreativitäts – Champion – Ehrennadel mit ziemlich bester Schleife ans Revers geheftet wird. Es ist ein Jammer.

Ähnlich gelagert, gerade jetzt im Zeichen der Oscar-Aktion, wird auch Remarques „Im Westen nichts Neues“ zu tiefschürfenden Mutationen genutzt. Im Zusammenhang mit Veränderungen in Brüssel und der Stellung von Ursula von der Leyen schrieb und sprach man dann schon einmal ohne Scheu von „Im Westen was Neues“. Eine feine Leistung.

Das sind so die kleinen Irritationen über Vorgänge, die außer mir keine Sau interessieren, doch in meinem Befinden ein beachtliches Nervungs-Potential bereithalten, besonders wenn sie im öffentlichen Sprachmilieu abgerüpelt werden.

Zweite Irritation

Angela Steidele erhielt den diesjährigen Klopstock-Literaturpreis. Sie schrieb z.B. den Roman „Aufklärung“ und ich vermute, die literaturhistoriche Epoche der Aufklärung ist ihr Thema.

Die Vertreterin eines Kultursenders des ostdeutschen Rundfunks würdigte die Verleihung an Angela Steidele, charakterisierte Klopstock als Vertreter der Aufklärung und zelebrierte ihre Meinung, dass eigentlich nur die Ausgezeichnete für diesen Preis in Frage kam. Denn sie hatte ja den Roman „Aufklärung“ veröffentlicht.

Mein Gott, ist das schlicht. Abgesehen davon, dass die lupenreine Einordnung Klopstocks zur Aufklärung noch keineswegs einen umfassenden Konsens erreicht hat, die Kategorie der Empfindsamkeit, mit der er vorrangig verbunden wird, wirkt da scheinbar noch etwas störend, sollte nicht nur der Blick auf den Buchdeckel für das Urteil entscheiden. Die literarische Qualität müsste man gleichfalls als Kriterium für eine Entscheidung erwägen.

Ich erinnere mich dabei, daß die Stadt Wurzen bei Leipzig vor einigen Jahren einen Literaturpreis für Kriminalromane organisierte. Die Preis-Kohle erhielt ein Leipziger Autor, dessen „ausgeklügelte“ Story in Wurzen ablief, auch nicht schlecht. Ein Buch mit Trinwillershagen als Handlungsort hätte wohl keine Chance gehabt.

Dritte Irritation

Hornbach-Werbung. „Es gibt immer was zu tun.“

Plakattext: „Vielleicht will Dein Rasen in Wahrheit eine Wiese sein. Lass die Natur mal machen“ (s.o.)

Aber bevor die Natur irgendetwas mal macht, kommt rein zu uns, kommt mit Fahrzeugen so groß wie Nautilus, räumt unsere Regale leer und macht Eure Wiese platt, sie soll sich hüten, eine Wiese zu bleiben oder gar zu werden. Und wenn die Natur dann erneut etwas mal machen will, z.B. einen Rasen zu einer Wiese, dann kommt erneut zu uns, kommt mit großen Fahrzeugen, so groß wie Nautilus…..

Vierte Irritation, bzw. Anti-Irritation

Eher nur durchschnittlich am sportlichen Geschehen interessiert, dekoriere ich manchen täglichen Ablauf durchaus zuverlässig mit Wintersportübertragungen.

Und ich bin ständig fasziniert, mit welcher heldenhaften Selbstbeherrschung sich Skispringer, Biathleten… vor, zwischen oder nach Wettkämpfen wie eingefrorene Erdmännchen vor der Kamera postieren, diese genormte Körperhaltung für die Ski-Werbung aushalten und auf beleidigend dümmliche Fragen der Fernsehreporter antworten ( z.B. „Freuen sie sich, dass sie im zweiten Durchgang weiter gesprungen sind…?, usw.)

Vor einigen Tagen wurde ein Skiflieger gefragt, der sich 200 Meter vorgenommen hatte, aber nur 196 Meter bewältigte, was ihm nun noch an 200 Meter fehle. Er anwortete: „4 Meter“. Damit kann ich leben.

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März 23, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Alte Filme-neu gesehen II Jürgen Henne alter Film „Der Pfandleiher“ 1964 von Sidney Lumet alter Text zum Film von 2011 Film wiedergesehen 2023 und 2023 unveränderte Neuauflage desTextes + Rod Steiger + Sidney Lumet + Sidney Poitier + Alte Filme-neu gesehen II + Alte Filme-neu gesehen I hier am 18. Februar 2023

Rod Steiger als Pfandleiher im gleichnamigem Film von Sidney Lumet, 1967

Es gibt Schauspieler, die hampeln unentwegt über die Leinwand, kratzen sich die Nüsse, brüllen wie Godzilla, zirkulieren mit ihren Köpfen wie eine Kreissäge, doch der Zuschauer neigt sich bald sanft zurück, kratzt sich gleichfalls die Nüsse und lässt Hypnos und Morpheus ihr Werk verrichten.
Und dann gibt es natürlich auch Schauspieler, die schauen wortlos auf eine zerknorpelte Hauswand, drehen sich erstarrt und teilnahmslos eine Zigarette, fläzen im Schaukelstuhl oder puhlen die Restsülze aus dem Kariesgebiss, sie können sich natürlich auch die Nüsse kratzen und der Zuschauer schluckt, ist gebannt und erschüttert ob der außerordentlichen Schauspielkunst.

Keinesfalls eine neue Erkenntniss, eher die Normalität im Kino.
Natürlich können auch hampelnde, wie Godzilla brüllende Darsteller eine hochwertige Kunst bieten und Knorpelhauswandanstarrer mit Restsülze im Gebiss sich schauspielerisch auf grottigem Terrain bewegen.
Rod Steiger konnte machen, was er wollte, laut und lästig sein oder sich erstarrt vor einer knorpeligen Hauswand die Restsülze aus dem Kariesgebiss puhlen. Sein Status als einer der bedeutendsten Schauspieler der zweiten Jahrhunderthälfte sollte nie angetastet werden.

Gerade bei seiner Rolle als Pfandleiher in „Der Pfandleiher“, brilliert er als ehemaliger Professor in Leipzig, als jüdischer Überlebender des Holocaust, dessen Familie verschleppt, vergewaltigt, getötet, also zerstört wurde.

Dieses Trauma hat er bis nach Spanish Harlem in New York getragen und verstört seine Umgebung mit einer beispiellosen Wortaskese, mit Pessimismus und Hoffnungslosigkeit, die der sensible Zuschauer nur unter Schmerzen ertragen kann.

Und es bedarf eben keiner großen Manierismen, emotionaler Schüttelgesten und Hände ringender Anfälle. Bei Sol Nazermann (Rod Steiger) haben die Spuren einer irreparablen Erschütterung selbst die Fähigkeit und den Willen zu Ausbrüchen und zur berechtigten Darstellung des Schmerzes über ein unsägliches, zum Himmel schreiendens Unrecht getilgt.

Das Leid hat selbst seinen Schmerz gebrochen.

Er umpanzert sich mit Grobheit, äußerer Härte und radikaler Unzugänglichkeit.
Bis die Abläufe kulminieren und sich bei Nazermann durch einen Opfertod allmählich der Nebel lichtet. Die letzten Bilder zeigen ihn auf den Straßen von New York.

Steiger konnte locker die Inkarnation des Kotzbrockens darstellen, des cholerischen Autoritätsfanatikers und gespaltenen Intriganten mit tiefer Familienbindung. Er spielte den Ehemann von höllischer Vergeltungswut, den Western-Rowdy und den politischen Feingeist mit ausgeprägter Hybris.

Nach Studien in verschiedenen Schulen, u.a. auch mit Marlon Brando in einer Klasse, spielte Rod Steiger bald am Broadway (Ibsens „Volksfeind“), debütierte bei Fred Zinnemanns „Teresa“ und erhielt eine Oscar-Nominierung für die Rolle des zwiespältigen Bruders Terry Malloys (Marlon Brando) in Elia Kazans „Faust im Nacken“. Weshalb der Originaltitel „On the Waterfront“ diese Übersetzung erhielt, erschließt sich mir nicht. Bei „Faust im Nacken“ denke ich irgendwie immer an John Wayne.
Jedenfalls für die damalige Zeit ein auffällig radikaler Film, der an originalen Schauplätzen von der Widerwärtigkeit gewerkschaftlicher Korrumption kündet.

Nach dem Pfandleiher bräuchte man keinesfalls den Regisseur zu wechseln, um unbescheiden anspruchsvoll die Filmstunden weiterzuführen.
Mit der Empfehlung von Lumets „Serpico“, „Nacht über Manhattan“ und vor allem „Die zwölf Geschworenen“ mit Henry Fonda, für mich ein überragender Streifen der Filmgeschichte, wird man kein Unverständnis ernten.

„In der Hitze der Nacht“ von Norman Jewison, 1967, mit Sidney Poitier und Rod Steiger

Gleichfalls Regisseur von „Cincinnati Kid“ mit Steve McQueen und dem göttlichen Edward G. Robinson.
Steiger fungiert zunächst als Über-Dödel, welcher der überragenden Intelligenz und der beispiellosen Erscheinung des schwarzen Kriminalbeamten (Sidney Poitier) nur dümmliches Unverständnis und Aggressivität entgegenbringt. Im Verlauf der Ermittlungen ändern sich die Dinge und zum Filmausklang trägt der weiße, grobschlächtige, unansehnliche, doch etwas geläuterte Rod Steiger dem schwarzen, feinsinnigen und ansehnlichen Sidney Poitier den Koffer zum Zug.

Wie Rod Steiger ständig mit seinen Sheriff-Zähnen auf Kaugummi herumdrischt, sich breitbeinig lärmend Autorität erarbeiten will und meisterhaft zwischen rassistischem Unfug, grober Ironie, unerwarteter Verlegenheit, aber auch Erstaunen und Scham pendelt, aufgelockert durch cholerische Intermezzi, erscheint mir in dieser Intensität nicht vergleichbar.

Aus heutiger Sicht wird man dem Film etwas Klischee-Bereitschaft bescheinigen. Doch sollte das Herstellungsdatum beachtet werden, eine Zeit, in welcher der Alltag Amerikas, zumindest im Süden, noch etwas anders geprägt wurde.

Der Film erhielt fünf oder sechs Oscars, u.a. für Rod Steiger, in diesem Fall kein Protest.

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März 2, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar