Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und die unregelmäßig bearbeitete Serie: „Geschichten, die das Jürgen schreibt.“

Sondermeldung—Sondermeldung—Sondermeldung—Sondermeldung—Sondermeldung

Als ich 1967 auf einem quietschenden Kofferradio-Sender (Mittel-o. Kurzwelle) „I`m Waiting for the Man“ und „Heroin“ hörte, kippte ich aus meinen Pubertätspantoffeln.

Lou Reed, John Cale, Maureen Tucker, Sterling Morrison und Nico führten mich in eine neue Musikwelt.

Bis zum heutigen Tag heftete ich mich an ihre Fersen, sechsundvierzig Jahre. Ich verfolgte die Soloprojekte von Lou Reed und John Cale, kippte aus meinen Pantoffeln des fortgeschrittenen Alters, als ich Mitte der 90er Jahre ein Konzert der kurzfristig vereinten „Velvet Underground“ sah und John Cale bei „Heroin“ sich und sein Saiteninstrument zu einem gemeinsamen Orgasmus führte.
Im Mai des vergangenen Jahres sah ich Lou Reed letztmalig auf den Dresdner Elbwiesen.

Gestern ist er gestorben. Das finde ich gemein.

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Irgendeine Formel I-Truppe bei der freudvollen Liebkosung eines Flachwagens

Ich liege unter dem Auto.

Vorgestern in der Nachrichtensendung von MDR-Klassik wurden an erster Stelle die Aussichten Sebastian Vettels für einen erneuten WM-Titel verkündet.
Gestern als Pole-Position nationaler und internationaler Information bei MDR-Klassik dann die Huldigung Vettels als neuer Weltmeister.
Hat mich etwas irritiert.
Von einer glutvollen Hingabe zu dieser pausenlosen
Kurven-Eierei kann bei mir ohnehin nicht gesprochen werden. Auch soll natürlich jeder nach seiner Facon selig werden, wie unser zweiter, besonders große Friedrich formulierte.
Doch warum muss ich mir diese Information als Ouvertüre zur nationalen und internationalen Berichterstattung in einem „Klassik“-Sender anhören. Ich fühle mich spürbar behelligt.

Ich wollte mittags den Presseclub sehen und hören (ARD).
Zwanzig Minuten vor dem traditionellen Schlusspunkt war Schicht. Wegen des Beginns der Wintersportsaison, die sich dann bis April dehnt. Und das bei gefühlt siebenhundert Sportkanälen.
Mich deucht, ich werde allmählich etwas zornig. Und das könnte eine europäische Krise ankurbeln

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Da fahr ich doch eher mit dem alten Ford durch das Abenteuer korsischer Straßenwindungen und stehe dann etwas dümmlich und im Regen zwischen korsischen Menhiren (Filitosa).

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Oder ich besteige mit Rucksack einen öffentlichen Bus und fahre acht Stunden durch das Zauberreich Mexiko, um dann die tierischen Wächter Chichen Itzas zu begrüßen(Yukatán).

Für mich alles besser, als einen halben Tag flache Autos zu beobachten, die Runden drehen und hin und wieder der eine Flachwagen den anderen Flachwagen überholt und wenig später der Flachwagen, welcher überholt wurde, genau den Flachwagen überholt, welcher den Flachwagen, der jetzt überholt, schon einmal überholte.

Doch wie gesagt: „Jeder soll nach….“

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Mark Lammert

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Mark Lammert

Sachverständige, welche die Kunst der abgefaulten DDR nicht nur mit Tübke, Heisig, Mattheuer, Sitte, Cremer… verbinden, könnte der Name des Bildhauers Will Lammert zugänglich sein (1892-1957).
Nach Hagen, Hamburg, Paris (Kontakt zu Archipenko), Düsseldorf, München, Essen, Rom (Villa Massimo mit Unterstützung Liebermanns)und verschiedenen Orten der Sowjetunion siedelte er ab 1951 für sechs Jahre in Berlin und bildhauerte für das KZ Ravensbrück sein spätes Hauptwerk.
Für ein gedrucktes Künstlerlexikon von Weltgeltung bemühte ich mich bis vor wenigen Tagen um einen anspruchsvollen Text über Mark Lammert, Wills Enkel.
Es ist mir natürlich gelungen, wie immer.
Sicher war ich über die Existenz Mark Lammerts informiert, dennoch überraschte mich die hochgradige Qualität seiner Kunst.
Während er sich während seines Studiums noch an K.Kollwitz und L.Grundig orientierte, zelebrierte er bald in konzeptioneller Manier die Reduzierung von Körperlichkeit, die er bei Ausstellungen als Blöcke auch in wundervoll serieller Ordnung anbietet. Fasrige und unruhig-fahrige Binnenzeichnungen verlieren nicht ihre Geschlossenheit. Malerei als kompakte, mehrschichtig angelegte Zeichnung. Lammert meidet erzählerische Elemente, unterlässt die Markierung räumlicher Koordinaten, und verhindert jede Möglichkeit einer Identifizierung, Bewegungen scheinen festgezurrt.
Für Heiner Müller schuf er Bühnenbilder („Bildräume“), z.B „Duell-Traktor-Fatzer“ im BE.
Gleichfalls arbeitete er mit Dimiter Gotscheff, der vor wenigen Tagen verstarb.

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Hamersleben, St. Pankratius, (12.+15. Jahrhundert), kreuzförmiger, dreischiffiger Kirchenbau basilikalen Zuschnitts, zwei Türme über östlichem Joch, turmlos im Westen, dreiteiliger Chor, Innenraum ohne Mätzchen, von unerbittlich klarer Schönheit, attische Basen unten, überragende Kapitellkunst oben, sehr schöne Madonna mit Kind auf der Mondsichel, um 1490, spätgotische Restmalereien, Jürgen mittig rechts (farbiger Bankfleck) bei der tiefschürfenden Analyse der architektonischen Gegebenheiten.

Kurze, unaufdringliche Nachlese

Während der Tage um den 3.Oktober strolchten wir durch den Harz. Doch weniger des Grundes einer kollektiven Orgie am Einheitstag auf dem Brocken wegen, mit patriotischen Gesängen und patriotischen Bierkästen unter dem Hintern.
Uns trieb es wiederholt entlang der romanischen Straße Sachsen-Anhalts. Mit Huysburg, Gröningen, Drübeck, Ilsenburg und natürlich Hamersleben.
Wenn man sich vergegenwärtigt, welcher Quark mitunter in dieses UNESCO-Welterbe aufgenommen wird, müsste für diese Liste eigentlich schon allein Hamersleben genügen, geschweige die gesamte Romanikstraße.

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Oktober 28, 2013 Posted by | Leipzig, Medien, Musik | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Georg aus Goddelau, Kinski als Woyzeck, Leipzigs Richard, Höfe am Brühl, eingelegte Salzheringe, moderne Musik als Kuno, 2032 und 2049 und 2059 und 2105, Hebbel ohne Huhn, Völkerschlachtstaumel, Georg Büchner und Jürgen am 19. Februar und Büchners Woyzeck als Bergs Wozzeck

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Nachtrag (19.10.13):

Konzert mit Blixa Bargeld und Teho Teardo. Morgen (20.10), Leipziger Schauspielhaus, 20 Uhr.

Für Unwissende:
Bargeld begann bei „Einstürzende Neubauten“ und spielte viele Jahre in der Band von Nick Cave. Keine schlechte Empfehlung.
Ich sah und hörte ein Konzert mit Nick Cave vor einigen Jahren im Leipziger Haus Auensee. Akustik wie immer lausig, dennoch unvergesslich.
Teho Teardo arbeitete u.a. mit Balanescu und Placebo zusammen. Gleichfalls keine schlechte Empfehlung.

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Büchner in der DDR

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Büchner im hessischen Goddelau

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Kinski als Woyzeck.

Allerdings bleibt das cholerische Spreizauge für mich nur eine mittelmäßig wichtige Figur deutscher Nachkriegskultur.
Keineswegs ein großer Mime, auch nicht in Herzog-Filmen. Auch nicht als Bibel-Rezitator in der Berliner Deutschlandhalle.


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Georg Büchner wird gepriesen, zum zweihundertsten Geburtstag. In dreiundzwanzig Jahren gibt es dann den zweihundertsten Todestag. Ziemlich kurze Spanne zwischen raus aus dem Schoß und rein in den Sarg.
Auch Leipzig gedenkt Karl Georgs.
Immerhin wurde Woyzeck in Leipzig geboren und ihm im Sommer 1824 auf dem Leipziger Marktplatz sein Soldatenkopf abgesäbelt.
Und ich denke natürlich an meine frühe Euphorie nach der Kenntnisnahme des markigen Spruches:“Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, an die folgende Faszination bei Lenzens Wahnwanderungen und an die Schwierigkeiten, die Drescherei zwischen Danton und Robespierres historisch zu erfassen.
„Leonce und Lena“ habe ich nie gelesen.

Doch denkt Leipzig natürlich heißblütiger an Richard Wagner mit dem Slogan: „Richard ist Leipziger“. (200)

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Leipzig, Brühlhöfe

Allerdings stehen seit 2012 auf dem Boden des Geburtshauses von Richard, dem Leipziger die „Höfe am Brühl“, der widerwärtigste, bösartigst misslungene Komplex von Einkaufsmöglichkeiten in Mitteleuropa. Ein Lappen mit Fenstern reiht sich an den anderen Lappen mit Fenstern. Billig bis ins letzte Detail hat die Fassade schon Schlamm angelegt. Als schäme sie sich ihrer originalen Ekelflächen.
Ich spreche nur vom äußeren Erscheinungsbild dieses Übel-Haufens als Eintrittsarchitektur für die ansehnliche Stadtmitte Leipzigs.
Die Innenräume werde ich nie beurteilen können. Denn ich werde sie nie betreten. Ich meide ohnehin derartige Welten und scheue sie, wie ein Gimpel eingelegte Salzheringe mit Milchreis.

Verdis Verbindung zu Leipzig ist eher mäßig und seine Opern werden ohnehin ständig angeboten, auch außerhalb runder Geburtstage (200). Nichts dagegen zu sagen. Ich liebe seine Musik, muss ja nicht immer der freiheitliche Chor sein.

Auch Brahms ging die Stadt mit dem hässlichen Völkerschlachtdenkmal ziemlich lebhaft am Gesäß vorbei. Doch wird er ebenfalls immerfort gespielt. Nicht nur im Jahr seines 180.Geburtstags.

Gerade diesjährig gibt es wieder einen Brahms-Zyklus, unter Chailly.
Geht auch in Ordnung, doch irgendwann einmal, dann doch ….Gähn!. Und wenn sich dann als zweiter Programmpunkt eine Sinfonie Beethovens anschmiegt, dann besonders …Gähn.
Beim Requiem von Brahms aktiviert sich auf meinem ansehnlichen Körper natürlich eine flächendeckende Gänsehaut.
Und wenn in Leipzig sich die zeitgenössische Musik nicht immer so zum Kuno machen würde, dann könnten meinetwegen auch Beethoven und Brahms endlos dudeln.

Über Christoph Martin Wieland wird weitgehend geschwiegen, trotz seiner Verbleichung 1813 in Weimar, vor 200 Jahren. Nur 130 Km von Leipzig entfernt.
Na, wartet. In den Jahren 2032 und 2049 sowie 2059 und 2105 wird auch Leipzig eine kollektive Erinnerungskultur beschwören, über hellen Geistern, die in Weimar abkühlten.

Auch nach Hebbel kräht kein Huhn, ungeachtet seines 200. Geburtstages und der Tatsache, dass er in der „Ilustrirten Zeitung Leipzig“ publizierte.

Bei Scharnhorst, dem Mann vom Rübenberge, liegen die Dinge etwas anders. Scharnhorst und die Völkerschlacht, Völkerschlacht und Leipzig, eine klare Linie. Er starb vor 200 Jahren.
Die Stadt zelebriert einen Völkerschlachtstaumel und Scharnhorst natürlich mittendrin.
Vor wenigen Tagen wurde im Deutschlandfunk Möckern erwähnt, ein Stadtteil Leipzigs und zentraler Punkt für die Klopperei, außerdem der Ort meiner Kindheit und Jugend, in einer Wohnung mit der Sicht auf einen Apelstein.
Und es offenbart sich noch eine Verbindung zwischen Leipzig und Büchner, neben der Körperkürzung Woyzecks.
Der Dichter starb an einem 19. Februar. Der Jürgen krähte erstmalig in die Sonne, am gleichen Tag des Jahres, nur einhundertundvierzehn Jahre später.
Ein Genius ging und wurde durch ein anderes angemessen ersetzt, nur eben etwas später.

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Und ich leiste mir jetzt einige Passagen aus Bergs „Wozzeck. Eine Oper, welche ich schon im spätpubertären Alter zur Kenntnis nahm und die gemeinsam mit Schönbergs „Moses und Aron“ meine Neigung zur Tonkunst des 20. Jahrhunderts und zur zeitgenössischen Musik erheblich beschleunigte.
Ich höre eine Aufnahme mit Herbert Kegel, dem Leipziger Rundfunksinfonie-Orchester und verschiedenen Sängern.
Schon in trostlosen, weit entfernten DDR-Tagen hatte Kegel für eine Akzeptanz zeitgenössischer Musik geworben.
Alban, Arnold und Herbert, habt Dank.

Und so schließt sich der Kreis um Büchners zweihundertsten Geburtstag in Leipzig.

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Oktober 16, 2013 Posted by | Geschichte, Kunst, Leipzig, Literatur, Musik | Hinterlasse einen Kommentar