Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und Wiens Phantastische Realisten oder Wiens Realistische Phantasten

Sankt Veit an der Glan, Österreich, Kärnten, Ernst-Fuchs-Haus, Mai 2017

Nun hat sich auch Arik Brauer als letzter Überlebender eines Vereins verabschiedet, dessen Mitglieder ab den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts um die gedeihliche Verbreitung des Phantastischen Realismus in Wien stritten. Neben Brauer auch Hausner, Hutter, Fuchs (Bild oben), Lehmden und Leherb. Die Kunstgeschichtsschreibung ordnet die Truppe als Wiener Schule des Phantastischen Realismus in ihre Karteien ein.

Natürlich nicht zu verwechseln mit z.B. einer anderen Wiener Schule ab Beginn des 20.Jahrhunderts (Schönberg, Webern, Berg, Adorno…), wobei es Wiener Schulen ohnehin auch in anderen Bereichen zuhauf gab.

Vor fünfzig Jahren ging ich ehrfurchtsvoll vor Bildern der „Phantastischen Realisten“, besonders bei Rudolf Hausner, mit fast betendem Gestus zu Boden. Bücher gab es darüber in der DDR natürlich nicht, denn die Vertreter dieser „spätkapitalistischen, dekadenten Spinnerei“ (Zitat) wurden von den sozialistischen Kulturfrettchen mit der Kompetenz eines Tapir-Säuglings eher argwöhnisch beobachtet. Dennoch gab es Anfang der 80er Jahre in Leipzig eine Personalausstellung mit Bildern Rudolf Hausners, eine Veranstaltung von durchaus sensationellem Anstrich und dann im Frühjahr 1991, gleichfalls in Leipzig, eine Übersicht mit Arbeiten des gesamten Wiener Phantasten-Ensembles, von Leherb abgesehen (s. Bild unten)

Katalog zur Ausstellung „Die Phantaten“ im Kunsthaus Wien und im Museum der bildenden Künste Leipzig, Frühjahr 1991

Jedenfalls konnte man während der Zeit vor fünfzig Jahren keine Literatur zu diese Kunst erwerben. Aber ich kannte z.B eben irgendjemand, der wiederum jemand kannte, dessen Bruders Oma einen Großneffen hatte, dessen Arbeitskollege ein Buch über Rudolf Hausner besaß. Ich bekam diesen Katalog aber nur für eine Woche, wenn ich diesem Arbeitskollegen für eine Woche „Die Blechtrommel“ verlieh, die sich in meinem Besitz befand…..usw, so spulte sich das in der Regel ab.

Es war diese Zeit vor etwa fünfzig Jahren als in meinen Vorstellungen von großer Kunst sich Präraffaeliten, Nazarener, Surrealisten und der gesamte symbolistische Kram wälzten. Künstler wie Moreau, Böcklin, Ensor, Redon, Hodler, Khnopff, Füssli, Böcklin, Burne-Jones, Gallen-Kallela, Segantini….bestimmten den Takt meiner kunsthistorischen „Besessenheit“. Und natürlich Dali, Ernst, Delvaux, Magritte, Tanguy, de Chirico…..Symbolist Max Klinger stand nie als Objekt meiner Zuwendung zur Debatte. Seine Malerei und Bildhauerei empfinde ich bis zum heutigen Tag nur schwer erträglich. Wenn ich Klingers thronenden Beethoven im Leipziger Museum sehe, erwäge ich grundsätzlich, ähnliche Nörgeleien zu zelebrieren wie Thomas Bernhard über Adalbert Stifter in „Alte Meister“. Seine Graphik ist aber sicherlich z.T bemerkenswert.

Katalog zu „Max Ernst. Gemälde, Graphik, Skulptur“. Halle, Staatliche Galerie Moritzburg, Herbst 1989 und Dresden, Galerie Rähnitzgasse, Winter 1990

Natürlich hat sich mein „Kunstgeschmack“ geändert, wobei das Urteil über die Qualität von Kunst niemals „Geschmacksache“ sein kann. Von dem Werk meiner frühen Giganten erhalten im Grunde nur noch die Bilder von Max Ernst (Bild oben), Ensor, Hodler mit Einschränkungen und Segantini bis heute mein Wohlwollen, wobei ich die Qualität und die kunsthistorische Bedeutung der bei mir „Zurückgebliebenen“ nicht bezweifeln werde.

Ensor huldigte ich vor einigen Jahren in seinem flandrischen Geburtsort Ostende und in dessem letzten Wohnhaus, dass zu einem James-Ensor- Museum gestaltet wurde. Und mit Freude sah ich, gleichfalls vor einigen Jahren, in Leipzigs Kino keinen faszinierenden, doch unbedingt ansehnlichen Film über Segantini („Magie des Lichts“).

Die Wiener Phantasten agierten vor fünf Jahrzehten für einige Monate als Zentrum meiner spätpubertären Kunst-Euphorie und sind deshalb für mich im Angesicht des Ablebens von Arik Brauer nicht nur eine oberflächliche Erinnerung wert.

Zugabe

Mein Lieblingsdialog der Woche

Vermutlich aufgezeichnet von Angestellten einer Wiener Bibliothek.

Besucher: „Ich hätte gern „Homo Faber“ von Thomas Mann.“

Bibliothekar: „Max Frisch hat „Homo Faber“ geschrieben“.

Besucher: „Warum?“.

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Januar 29, 2021 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und 15 Unterschriften in den ersten Minuten

Text unter dem Bild

„An die Arbeit: Joe Biden unterschreibt in seinen ersten Minuten als US-Präsident im Oval Office 15 Verordnungen“ (Leipziger Volkszeitung, 22.Januar 2021).

Donnerwetter, das ist ja phänomenal, in wenigen Minuten hat Biden fünfzehn Verordnungen unterzeichnet. Donnerwetter, dann wird er ein ganz großer Präsident. Hoffentlich bekommt der Medizinmann, der sich gewiss ständig im Nebenraum des Oval Office in den Startlöchern wiegt, des Präsidenten Fingergelenks-Arthrose in den Griff.

Denn mir scheint, der sehnsuchtsvolle Blick des neuen US- Präsidenten deutet darauf , dass der neue US-Präsident weitere fünfzehn Verordnungen erwartet, für die Unterzeichnung während der nun folgenden Minuten nach den ersten Minuten als US-Präsident im Oval Office.

Dann muss der nachfolgende Präsident in vier bzw. acht Jahren aber unbedingt sechzehn Verordnungen innerhalb der ersten Minuten als US-Präsident im Oval Office unterschreiben. Donnerwetter, das wäre ja noch phänomenaler, dann wird er ein noch vortrefflicherer Präsident. Und hoffentlich leidet der Medizinmann im Nebenraum des Oval Office inzwischen nicht an Arthrose der Fußgelenke und könnte deshalb nur noch schleichend zu des Präsidenten Arthrose im Oval Office schlurfen.

Und hoffentlich lesen die Präsidenten im Oval Office fünfzehnmal und in vier bzw. acht Jahren dann sechzehnmal auch das, was sie in den ersten Minuten als US-Präsident im Oval Office unterzeichnet haben. Und dann gleichfalls die folgenden Verordnungen nach den Verordnungen der ersten Minuten als Präsident im Oval Office.

Dieser Journalismus in deutschen Medien, natürlich gibt es Ausnahmen, zelebriert eine Infantilisierung, eine Unterforderung, die mich fassungslos zurücklässt.

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Januar 25, 2021 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Alex Ross, Richard Wagner und zwei Bücher auf einem Nachtschränkchen

Vor reichlich zehn Jahren blätterte ich in einer Buchhandlung um das Alte Rathaus in Leipzig herum in „The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören“ von Alex Ross (Linkes Bild, rechts). Ich wusste nur von dessen Aktivitäten als Musikkritiker bei nordamerikanischen Zeitungen. Nach wenigen Minuten und nach wenigen Seiten verstärkte sich mein Bedürfnis dramatisch, von ihm informiert und unterhalten zu werden. Ich stand umgehend an der Kasse und transportierte die üppig angelegte Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts (702 Seiten) in meinen heimischen Lesesaal. Seitdem liegt der Band in privilegierter Position auf dem „Nachtschränkchen“. Natürlich weniger mit der Aufgabe belastet, als Hypnotikum-Ersatz zur Müdigkeits-Beschleunigung zu dienen, eher garantiert mir diese kurze Lesezeit die innere Sicherheit, die letzten Minuten des Tages nicht vergeudet zu haben.

Alex Ross beginnt mit dem Hinweis auf die Darbietung von „Salome“ in Graz im Frühling des Jahres 1906, von Richard Strauss selbst dirigiert und arbeitet kurz die Besuchererliste ab, erwähnt u.a. Puccini, Mahler mit Alma, Schönberg, v. Zemlinsky, Alban Berg, die Witwe von Johann Strauß (Sohn), möglicherweise auch Hitler und endet bei John Adams und dessen Oper „Nixon in China“ (Uraufführung 1987).

Im restlichen Papierstapel zwischen Salome und Nixon erzählt Ross dann über Debussy und Schönberg, über Wien und Paris um 1900, über Weills Dreigroschenoper und die Zwölftöner, vergisst nicht die Russen Schostakowitsch und Prokokofjew, auch nicht Boulez, Cage, Britten, Messiaen und Ligeti. Er übersieht, bzw. überhört auch mitnichten die Avantgarde in Kalifornien, den Minimalismus in New York und an der Westküste des gleichen Landes und wendet sich mit Freude z.B Ives, Copland, Carter, Gubaidulina, Eno, Feldman, Xenakis und der Musik zum Abschluss des vergangenen Jahrhunderts zu. Man sehnt sich danach, es möge nie enden (Extrem gekürzte Widergabe des Inhaltsverzeichnisses).

Ross erzählt und erzählt und erzählt……, er erzählt und führt keine fachsimpelnde Eigenbetrachtung mit einer eitlen Daueranwendung von Terminüssen. Alex Ross zelebriert natürlich auch seine Kenntnisse von Musik und musikhistorischen Zusammenhängen, aber eben ohne Blenderei und pomadig, frontal vorgetragene Gelehrsamkeit. Unaufgeregt und mit selbstbewusster Gelassenheit zieht er seine Kreise über die Seiten und meidet auch nicht die Kategorien Humor und Ironie.

Beste Unterhaltung im wahrsten Sinne der Wortgruppe.

Eine durchaus selten auftretetende Verbindung von Kompetenz und literarischer Begabung.

Einschub

Marcel Reich-Ranicki würde vielleicht wie üblich mit der rechten Hand etwas merkwürdig wedeln, begleitet von seinem Urteil: „Ich sag Euch, der kann schreiben“. Danach kam in der Regel von ihm nicht mehr allzuviel Substanz, doch hatten z.B. Sigrid Löffler und Karasek im Literarischem Quartett ja schon zuvor ziemlich tiefschürfend alle Nuancen eines Textes beschrieben. Immerhin legte er dann noch seine Hand auf Löfflers Unterarm. Die für mein Verständnis doch beträchtliche Überbewertung Reich -Ranickis kann auch mit der befremdlichen Kultigkeit um Klaus Kinski verglichen werden. Hier scheinen mimische Erstarrungen, infantil-feindselige Allüren und hysterisch deklamierte Charakterisierungen seiner Mitmenschen als „Du Drecksau….“ mitunter als Kategorien für hohe Schauspielkunst zu gelten.

Ende des Einschubs

Und vor einigen Tagen war ich bereit für einen Alex-Ross-Nachschlag („Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“). Ich habe das Buch schon auf mein „Nachtschränkchen“ gelegt und vermute, auch diese 900 Seiten werden mir die innere Sicherheit geben, die letzten Minuten des Tages nicht vergeudet zu haben (Oben und ganz oben, links).

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Januar 10, 2021 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar