Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und das Leben Dmitri Schostakowitschs in einer Biografie von Krzysztof Meyer

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Man kann gar nicht genug von Schostakowitsch umgeben sein

Es erschließen sich ja mitunter vorübergehende Aufenthaltsorte, an denen das Zeitangebot für die Tätigkeit „Lesen“ erheblich erweitert wird, trotz weitgehend misslicher Begleiterscheinungen.
Auch sechshundert Seiten können dabei in acht Tagen mühelos gerissen werden.

Ich bezwang nun soeben meine acht Tage mit sechshundert Seiten und wählte dabei Krzysztof Meyers Schostakowitsch-Biographie, obwohl meine Neigung zu diesem literarischem Genre eher begrenzt ausfällt.

Sechshundert herausragende Seiten.

Ich habe keine Lust zu einer Begründung dieses Urteils, wäre mir momentan zu beschwerlich, deshalb nur ein paar heitere inhaltliche Bruchstücke, die aber nicht selten auf ein düsteres, auch vernichtendes Fundament verweisen können.

Nach 1917, nach 1924 und selbst noch am Beginn der Herrschaft Stalins bildete sich in der Sowjetunion eine Avantgarde als staatlich akzeptierte Kunst heraus, welche die europäische Kunstgeschichte maßgeblich beeinflusste.
Konstruktivismus, Suprematismus und El Lissitzky, Tatlin, Rodtschenko oder Malewitsch gelten bis heute als unverzichtbare Wegbereiter.
Aber auch u.a. bei Theater (Meyerhold), bei Ballett (Djagilew) und Film (Eisenstein) setzte die russische Kultur am Beginn des 20.Jahrh. gewichtige Akzente.
Russische Künstler orientierten sich auch wacker an westlichen Entwicklungen, eben auch noch in den Anfangsjahren der sowjetischen Diktatur.
So bezog sich auch Schostakowitsch während seiner frühen Jahre z.B. an Mahler, hörte die Musik von Milhaud, Poulenc, Hindemith, verwendete Polkas, Walzer, Galoppe, Foxtrotts und endete mitunter durch seinen Originalitätstrieb bei einer bemerkenswerten Banalität.

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Feuerwehrorchester

Schostakowitsch wurde gebeten, Majakowskis „Die Wanze“ zu vertonen.
Bei der ersten Begegnung mit dem Dichter war Schostakowitsch sicherlich etwas irritiert.
Denn der Dichter fragte zunächst:
„Lieben Sie Feuerwehrorchester?“

Dessen Antwort ist nicht überliefert.

Ab 1929 schrieb Schostakowitsch die Musik zu einem Ballett („Das goldene Zeitalter“).
Inhalt:
Während einer Industrieausstellung im „Westen“ stehen sich eine sowjetische und eine westlich faschistische Fußball-Mannschaft gegenüber.
Und dieses Thema in einem Ballett mit drei Akten.
Es begann nun die Zeit stalinistischer Kulturpolitik, einschließlich entsprechender Forderungen an heimische Künstler.
Dennoch gelang es u.a. auch Schostakowitsch immer wieder, diktatorische Banal-Kunst mit avantgardistischer Tonsprache zu veredeln.

Nicht verwechseln mit Bunuels und Dalis surrealistischem Film gleichen Titels (1930), den ich immerhin am Beginn der 70er Jahre im Leipziger „Casino“ sah.
Als Schauspieler agierte u.a. Max Ernst.

Ein weiteres Ballett, das Schostakowitsch musikalisch begleiten sollte, wurde mit „Der Bolzen“ betitelt, eine dämliche Sabotage-Story mit Komsomolsekretärin Olga, der Brigade Boris, dem Produktionsleiter Kosselkow und ständig besoffenen Arbeitern.
Klingt spannend, eine feine Aufgabe für Dmitri.

Natürlich musste Schostakowitsch teils grauenvolle Zugeständnisse machen.
Vor der Premiere zu seiner Oper „Die Nase“, nach Gogol, unterstrich er, dass er die Musik für die Zuhörer aus der Arbeiter-u. Bauernklasse komponierte.
In der Symphonie Nr. 3 wollte er „nur die allgemeine Stimmung eines Festes der internationalen Solidarität des Proletariats zum Ausdruck bringen.“

Über das „Goldene Zeitalter“ erklärte er:“
Ich tat dies, indem ich den westeuropäischen Tänzen die Eigenschaften einer ungesunden Erotik gab, die für die gegenwärtige bürgerliche Kultur so bezeichnend ist, die sowjetischen Tänze dagegen stattete ich mit Elementen einer gesunden Körperkultur und Sportlichkeit aus….“
Ich vermute, Schostakowitsch musste nach diesem Beitrag kotzen.

Anatoli Lunatscharski^, eigentlich eher aufgeschlossen und liberal, erörterte 1927 tiefsinnig: „Die Grundlage der westeuropäischen Musik sind Drogen, und es herrscht in ihnen der Geist des Jazz.“

Alexandr Dawidenko schrieb ein Chorwerk „Lobpreisung des Waggons“

Schostakowitsch schreibt die Musik zu „Der bedingt Ermordete“ und zum Film „Der erhärtende Beton.“
Grandiose Titel.

Stimmen über Schostakowitsch
…..„Aber für seine Nächsten ist sein Charakter schlicht nicht zu ertragen“.

Schostakowitsch über die zehnte Vorstellung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“:
„Das Stück läuft gut. Das Publikum hört aufmerksam zu und begibt sich erst nach dem Schlussvorhang in die Garderoben. Es wird kaum gehustet.“

Aragon urteilt Mitte der 30er Jahre:
„Nimmt die neue, stalinistische Verfassung im gewaltigen Schatz der menschlichen Kultur nicht den ersten Platz ein, vor den königlichen Werken der Phantasie von Shakespeare, Rimbaud, Goethe und Puschkin? Diese prachtvollen Seiten von der Arbeit und der Freude von 160 Millionen Menschen, geschrieben von dem bolschewistischen Genius, der Weisheit der Partei und Ihrem Vorsitzendem, dem Genossen Stalin….“

Unter anderem auf dieser ideologischen Müllhalde eines einstigen Begleiters von Andre Breton schuf Schostakowitsch, der seine Heimat nie auf längere Zeit verließ, zwischen qualvoller Anpassung und gefahrvollen Ausbrüchen ein unvergleichliches Werk.

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Schostakowitsch pflegte innerhalb eines Lebensabschnitts die enge Freundschaft zu M.M. Soschtschenko.
Bei kollektiven Besäufnissen von DDR-Studenden lag die LP „Lyrik Jazz Prosa“ ständig griffbereit, auf der u.a. Manfred Krug Soschtschenkos Text „Die Kuh im Propeller“ rezitierte.

Werbung für das sowjetische Flugwesen vor sowjetischen Pferdebauern!

„…..Da ist einmal bei uns eine Kuh in den Probeller gekommen! Ritsch, ratsch, weg war sie! Auch Hunde!“
„Und Pferde?“ fragten ängstlich die Bauern. „Auch Pferde, Väterchen?“
„Auch Pferde!“ sagte stolz im Brustton der Überzeugung der Rednner. „Das kommt oft vor!“…….

Es kam auch durchaus vor, dass Schostakowitsch den Dichter Soschtschenko in dessen Behausung aufsuchte.
Nach einem „Strastwuitje“ schloss sich die totale Kommunikationslosigkeit an.
Das Treffen endete nach Stunden mit „Doswidania“ und Schostakowitsch verließ die Wohnung.
Die Begegnung von zwei Chaoten.

Außerdem teilten beide die Phobien vor Frauen, Bettlern und Wasser.
Am Lebensende sagte Schostakowitsch: „Ich fürchte mich vor allem…“

Alle Zitate aus: Meyer, Krzysztof, Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Schott 2008.

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September 9, 2016 Posted by | Leipzig | 1 Kommentar