Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und die hochgradig geschätzte Serie: „Fundsache des Tages“. Heute: „Jürgens BB“ (Blätterbücher bzw. Bücherblätter)

Frühe Belege meiner Neigung zu herbarischen Anlagen. Ich fand dieses Druckerzeugnis in irgendeiner abgedunkelten Ecke im hintersten, besonders abgedunkeltem Eck-Regal und vermute, dass ich das Märchenbuch um 1957/58 zwecks Pressung und Trocknung mit botanischen Bauteilen gefüllt hatte. Mir scheint es gelungen zu sein. Denn nach über sechzig Jahren gibt es noch keine größeren Zerbröselungsansätze, das pflanzliche Material hat seine Stabilität bewahrt, vielleicht auch wegen der auffälligen Verdunkelungs-Situation.

Besonders dunkle Irritationen haben sich bei mir aber nach meiner Kenntnisnahme des Buchinhalts ergeben. Auf neunundsiebzig Seiten werden russische Volksmärchen angeboten. Sollte man damit heute noch Kinder erfreuen ?

Meine Irritation kulminierte, als mich ein tägliches Halbinformationsblatt darüber unterrichtete, dass ein Wiesbadener Filmfestival die russischen Beiträge in die Tonne geschoben hat. Diese Kulturpolitik von einer gefährlich ausgelebten Ignoranz, von einer infantilen, „vorsorgenden“ Gehorsamkeit und einer fast beleidigenden Inkompetenz bei politische Zusammenhängen und Abhängigkeiten macht mich sprachlos, ein Zustand, der sich bei mir nur in extrem extraordinären Zuständen entwickelt.

Ist diesen Einfaltspinseln denn nicht bewusst, dass derartige Aktionen vielleicht gerade Intellektuelle, Künstler, usw. erniedrigen und deren Hoffnung und Optimismus strangulieren. Russen, die sich möglicherweise zu Katalysatoren für oppositionelle Bündnisse in ihrem Land zusammenfügen könnten. Es sind vielleicht in diesem Fall Filmemacher, deren Produkte in ihrer Heimat ohnehin in die Tonne gedroschen werden, jetzt kommt die deutsche Tonne dazu.

Es wird dann unsäglich gelabert, dass man es sich bei dieser Entscheidung nicht leicht gemacht hätte, man habe darum gekämpft und gerungen, jedoch könne man keine Gäste akzeptieren, deren Land mit Bomben über ein anderes souveränes Land zieht. Diese verbalen Darmblähungen sind mir zunehmend zuwider.

Im Gegenteil, es ist unabdingbar, russische Filmregisseure zu deutschen Festivals, bildende Künstler Russlands zu deutschen Ausstellungen einzuladen, Musikern und Schriftstellern Russlands deutsche Bühnen zu öffnen. Man sollte dieser russischen Kultur, der Kunst, der Wissenschaft… huldigen und die Kultur der aktuell agierenden Wladimire und Sergeis verdammen. Das sind Hilfestellungen mit Zeichen der Zuversicht, auch ohne Haubitzen. Doch nicht als Lippenbekenntnisse in deutscher, ukrainischer oder russischer Sprache formuliert, wie sie inzwischen im deutschen Alltag als Vakuum-Floskel rotieren. Und besser eine dreckige Ehrlichkeit als eine schleimige Unehrlichkeit. Lippenbekenntnisse sind die ekelerregendsten Äußerungen der menschlichen Zivilisation.

Mit dieser Wiesbadener Ignoranz (kein Einzelfall) werden die Inhalte von Reservoirs der Zuversicht nicht angereichert und die Hoffnung ungerecht verteilt, in Russland und in der Ukraine,

Und ich bin auch nicht gewillt, mich für meine doch recht üppige Auswahl russicher Literatur, russischer Tonträger und Film-DVD`s rechtfertigen zu müssen, weil ich ja damit, zumindest im Sinne dieser besonders feinsinnigen Moralfrettchen, im Grunde den Kriegs-Berserkern in Moskau dienen würde, das ist mir einfach zu blöd, einer Kommunikation auf diesen Ebenen entfliehe ich. Ähnlichen Tendenzen bin ich aber tatsächlich schon begegnet.

Auch die Vorgänge im Zusammenhang mit den diesjährigen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch irritieren mich erheblich. Als langjähriger Gast bin ich Zugeständnissen über Abläufe und Veränderungen. gegenüber freundlich gesinnt. Und natürlich müssen auch die Ereignise in der Ukraine beachtet werden. Doch mir scheint, dass im Programm Änderungen vorgenommen werden, wodurch die Musik von Schostakowitsch nur noch als kurzer Vorspann und als ähnlich reduzierter Nachhall erklingen wird. Vielleicht auch nicht, das Programm wurde noch nicht bekanntgegeben.

Außerdem hoffe ich , dass man nicht endlos über die aktuelle Bedeutung der Musik von Schostakowitsch sülzt. Diese oft einfältige Frontal-Aktualisierung und die presslufthammerartige Bearbeitung von Kunst, um sie für die Tagespoltik verfügbar zu formen, kann ich nicht mehr ertragen.

Zu welchen Gedankenketten man doch durch eine paar vertrocknete Blätter geführt werden kann.

Und jetzt blättere ich in einem Band mit Arbeiten Malewitschs, sehe ein paar Szenen aus Tarkowskis „Stalker“, höre Musik von S. Gubaidulina und lese einige Texte von A. Achmatowa oder M. Zwetajewa und denke dabei friedliebend an die friedliebenden russischen und ukrainischen Völker.

Vielleicht lese ich auch ein russisches Volksmärchen aus meinem Blätterbuch (s.o.), wer weiß das schon.

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April 29, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, eine heitere Kritik an einer Konzertkritik, Lord Byron, Tschaikowski und Manfred, süße Geigen, zuckerwattenweiche Querflöten, Feenstaub aus einem dreieckig gebogenen Stahlstab und ein Bootsunglück bei Viareggia

LVZ, 2./3. April 2022, Kulturseite, Überschrift eines Beitrags zu einem Konzert mit Musik von Unsuk Chin („Scherben der Stille“) und Peter Tschaikowski („Manfred-Sinfonie“) im Leipziger Gewandhaus

Wenn bei der Überschrift zu einer Konzertkritik auf „Tonsümpfe“ und „Feenstaub“ verwiesen wird, gellt bei mir die Alarmglocke, ähnlich voluminös wie die Erfurter Gloriosa.

„Scherben der Stille“ ist mir noch unbekannt, aber die „Manfred-Sinfonie“ kenne ich wohl, regelrecht sehr, sehr wohl. Ich vermute, ich könnte sie als erster Violinist des Orchesters ohne Notenständer fehlerfrei abfiedeln. Denn vor etwa fünfzig Jahren hatte ich meine Hinwendung zur Musik Tschaikowskis bis zum Exzess getrieben und einige Grundkenntnisse haben die Zeit bis zum heutigen Tag überdauert. Die Weisheit des Alters veränderte natürlich meine Bewertung des Wotkinsker Komponisten und ordnet ihn nun eher sachlich in die Musikgeschichte ein.

Und nun heitere Anmerkungen zur Konzert-Kritik zu Tschaikowskis „Manfred-Sinfonie“ in Leipzigs Gewandhaus. Hervorgehobene Text-Details sind Zitate des Artikels.

Nach der ersten akustischen Wahrnehmung der Kritikerin tönen bei einer musikalischen Beschreibung der Alpen die Instrumente „mal moosig, mal taubenetzt…“ (Streicher, Holzbläser), „mal süss…“ (Violinen). Den ersten Geiger, der meine Kreise streift, werde ich bitten: „Lieber Geiger, geige für mich doch einmal ganz besonders süß“. Ich vermute, er wird sein Instrument zwischen meine Ohren dreschen.

Als Manfred dann vor dem ersehnten Abgrund steht, um endlich seinen geplanten Suizid zu vollenden, analysiert die Kritikerin: „Die Kontrabässe schwimmen im reißenden Strom in der Tiefe“. Ein grandioses Bild, die tieftonigen Kontrabässe schwimmen im reißenden Strom in der Tiefe, ächz, ächz…. Hoffentlich finden die Kontrabassisten ihre Instrumente in der Tiefe wieder.

Manfred begegnet einer Fee und „Flink umschwirrt sie ihn (Manfred) in den Querflöten, fragen kreiselnd die hohen Streicher…. Aber auch: „Klar, rein und unschuldig ist der Klang der Oboe, zuckerwattenweich locken die Querflöten…stöhn,stöhn…Die Querflöten können flink umschwirren und danach flink zuckerwattenweich locken, die Querflötler haben es einfach drauf. Das muss man einfach nochmals genießen: Zuckerwattenweich locken die Querflöten. Ich werde den nächsten Querflötler, der meine Kreise streift, um eine zuckerwattenweiche Querflötung bitten. Ich vermute, mir klemmt dann neben einer Geige auch noch eine Querflöte zwischen den Ohren.

Und auch das noch: „Eine letzte Prise Feenstaub legt das Triangel über die Szenerie“ . Aber jetzt muss das Triangel nachgefüllt werden, falls irgendwo in Europa Wagners erste Oper „Die Feen“ aufgeführt werden sollte. Feenstaub wird immer gebraucht. Im Andante werden darauf die Besonderheiten der Existenz von Alpenbewohnern beschrieben, Tschaikowski entwirft …“das Bild des einfachen und behaglichen Lebens der Gebirgsbewohner“.

„Die Oboen malen die Idylle eines geregelten Alltags, die Querflöten erzählen kleine Anekdoten, die Streicher ziehen wie eine leichte Sommerbrise vorüber. Von ferne erklingen Kircheglocken“….schauder, schauder….

Mich irritiert in diesem Zusammenhang auch die Anwendung von „behaglich“ und „Idylle“. Für ein Musikstück, als Pastorale angelegt, nach einem Gedicht von Byron komponiert, böte sich ein treffenderes Vokabular an. Doch diese Möglichkeiten muss man natürlich sprachlich erfühlen. Ich erfühle sie. Die Musikkritikerin der LVZ erfühlt sie mitnichten.

Und neben flinken Umschwirrungen und sich flink anschließenden zuckerwattenweichen Lockungen können Querflöten scheinbar sogar noch Anekdötchen erzählen und hoffentlich kommen die Streicher, gleichfalls wie eine leichte Sommerbrise, auch wieder zurück. Und hoffentlich klingen dann auch von fern die Kirchenglocken.

Und hoffentlich muss ich nicht irgendwann nochmals eine derartige Unsäglichkeit lesen.

Man sollte die Romantik, auch die englische und auch Tschaikowski etwa ernster nehmen und sie nicht mit einem Anspruch unter dem Niveau pubertär geführter Poesie-Alben erniedrigen.

Wenn ich als dreizehnjähriger, pubertierender Junge einem dreizehnjährigen, gleichfalls pubertierenden Mädchen diese sprachliche Sülze in eben jenes Poesie-Album geschrieben hätte, sie hätte das Büchlein zu einem Diskus gefaltet und nach mir geschmettert. Zwischen meinen Ohren würden dann eine Geige, eine Querflöte und ein, zu einem Diskus gefaltetes Poesie-Album klemmen.

Tschaikowskis“ Manfred-Sinfonie“,

Teil meiner durchaus umfangreichen Tschaikowski-Platten-Sammlung, erworben am Beginn der 70er Jahre, Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR unter Jewgeni Swetlanow . Cover mit einem Bild von Isaak I. Lewitan, für mich einer der wichtigsten Maler Russlands im 19.Jahrhundert.

Eine Inhaltsangabe und interpretatorische Erläuterungen von Byrons „Manfred“ werde ich hier nicht darbieten. Das Gedicht kann jeder selbst lesen.

Ich nahm „Manfred“ unmittelbar nach dem Kauf der Schallplatte (s.o.) zur Kenntnis und versuchte anschließend Literatur von und über Byron zu lesen, in der DDR damals nicht ganz einfach.

Und ich wurde 2016 innerhalb eines Aufenthalts im ligurischen Lerici erneut motiviert, meine Erinnerungen an Byron zu aktivieren. Denn im Sommer 1822 besuchte Percy B. Shelley in Livorno Lord Byron ( Zur entgegenkommenden Erinnerung, Byron ist der Autor von „Manfred“), deren Freundschaft in der Literaturgeschichte inzwischen einen legendären Zuschnitt erhalten hat. Auf der Rückfahrt von Livorno (Toscana) nach Lerici mit dem Seegelboot ertranken Shelley und zwei Begleiter bei heftigen Sturm in der Nähe von Viareggio.

Mein Foto einer kleinen Erinnerungsstätte für Shelley in Lerici kann ich in meinem digitalen Saustall momentan nicht finden.

Mary Shelley, Georg G. Shelleys Ehefrau ist die Verfasserin von „Frankenstein“.

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April 4, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar