Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, eine Bücher-Nostalgie und das Verhältnis zu Kaisern und Sommermärchen

Fußball im Tor mit Tornetz

Ich kann „Sommermärchen“ und „Kaiser Franz“ nicht mehr ertragen. Jede Rundfunkanstalt, jeder Fernsehsender, jede Provinzpostille sülzt gnadenlos diese sprachlichen Ärgernisse in den Äther, seit Wochen.
Wie sagte Niersbert vor wenigen Tagen: „Es war ein Sommermärchen, es ist ein Sommermärchen, es wird immer ein Sommermärchen sein“. Dreifach hält besser. Eine feine, sprachlich souveräne Zusammenfassung.
Und warum soll ich Beckenhauer als „Kaiser“ akzeptieren. Sicher hat er in begnadeter Manier dusslige Bälle hin-u.hergeschoben.
Doch als infantil quasselnde Sparflamme erscheint er mir inzwischen intellektuell beleidigend unattraktiv.

Vielleicht gelänge es mir, eine Software zu erwerben (wie bei VW), welche die Gefahr erkennt,
wenn Worte wie „Sommermärchen“ und „Kaiser Franz“ sich ankündigen, um entsprechend zu reagieren und kurzfristig zu löschen.

Vielleicht angelehnt an frühere Praktiken im Fernsehfunk und Radio, als Formulierungen, die ich nie und nimmer aussprechen würde, z.B. „Schwanzlutscher“ oder „Tittenficker“, durch „Piep,piep,piep,piep….“ ersetzt wurden.
Manchmal erschien auch ein „S“……..und ein „r“ für Schwanzlutscher oder ein „T“……..und ein „r“ für Tittenficker. Dazwischen dann „Piep,Piep,Piep,Piep…..

Aber gegen diese etwas grob-folkloristischen Artikulation-Modelle habe ich nichts.
Doch bei einer ungezügelten Verwendung von „Sommermärchen“ für eine Fußball-WM und von „Kaiser Franz“ für einen vergreisten, aufdringlichen Zeitgenossen falle ich schmerzhaft grimassierend vom Hocker.

gillesderais

Georges Bataille, über Gilles de Rais

Deutschlandfunk, „Kalenderblatt“ Montag, 9.05.

Kalenderblatt, früher: „Wir erinnern…..“, eine fünfminütige Sendung, die ich inzwischen als Senior dankbar zwischen samtweich gekochtem Ei, edlem Käsebrot und Schnittlauch auf dunkler Backware aufnehme.
Seit Jahrhunderten höre ich diese Beiträge und genieße sie als morgentliche Unterstützung für meine fast psychopatisch angelegte Wissensgier.
Gestern nun die Würdigung der Galgenbekanntschaft von Gilles de Rais vor fünfhundertfünfundsiebzig Jahren.
Vielleicht nicht gerade ein spektakuläres Jubiläum, doch immerhin aktivierte es meine Erinnerug an Georges Bataille, dessen Buch „Leben und Prozess eines Kindermörders“ ich während der 70er Jahre nach tausenden anderen Händen als zerlumpten Papierhaufen empfangen und lesen durfte.

Gleich am Beginn der kleinen historischen Betrachtung im Deutschlandfunk wurde Gilles de Rais als Marschall von Frankreich, Held des Hundertjährigen Krieges, als Doyen des bretonischen Adels und….als Serienmörder eingeordnet, der mit Jenne d`Arc nach Orléans zog.
Es fehlte nur noch Tischtennisspieler.
Neben seiner Heldenhaftigkeit und seiner Gier nach erhöhten Militärtiteln gönnte er sich noch ein Nebenhobby.
Er massakrierte etwa zweihundert Knaben, vielleicht waren es auch zweitausend, weitete sich an der Ästhetik fließenden Kinderblutes und besaß mit dieser Radikalität ein unumstrittenes „Alleinstellungsmerkmal“ selbst im Mittelalter.
Er starb durch den Strang, eindeutig keine Normalität für Massenmörder adliger Herkunft, er wurde sechsunddreißig Jahre

Also kein Favorit für ausufernde Sympathie-Werte.

Jedenfalls erinnerte ich mich nostalgisch an Bataille, dessen Buch ich damals nur fragmentarisch verstanden hatte, seitdem nie wieder in die Hand nahm und zudem in meinen Regalen momentan nicht finden kann, doch werde ich die Suche intensivieren.

9783499250941_1437794489000_xxl

Ich rumorte dann während dieser Zeit eher in der Literatur Hubert Fichtes, Rolf Dieter Brinkmanns, Arno Schmidts (Zettels Traum)…..
Brinkmanns „Rom, Blicke“, ein radikal vorgetragener Pessimismus mit dem Bedürfnis, die gesamte Zivilisation in einem großen Kotzbottich zu versenken, begegnete mir in einer Phase des Ekels am Leben.
Brinkmann entwickelte sich über Monate zu meiner literarischen Stimme. Ich kopierte seine Texte, befestigte sie an der Wand oberhalb meines Nachtlagers und dann kotzten wir gemeinsam. Leider lebte er nicht mehr, als ich das Buch las.
Ich denke, ich hätte jede DDR-Internierung riskiert, um eine Kontaktaufnahme mit ihm zu erreichen.

41TV3EZ6YRL._SX301_BO1,204,203,200_

Auch Fichtes Bücher, z.B. „Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte“, „Über die Pubertät“, „Die Palette“ schoben mich mitunter auf „grauenhafte“ Ebenen, die sich weit von meiner damaligen Literatursicht entfernten.
Thomas Mann, Hermann Hesse, Romain Rolland, Stefan Zweig und die Russen des 19.Jahrhunderts……Das war vor vierzig Jahren

Buchtipps der Woche: siehe oben

Musiktipp des Tages: Pierre Boulez, „Improvisation sur Mallarmé“, 1957

juergenhennekunstkritik.wordpress.com
juergen-henne-leipzig@web.de
ILEFLoffsen205198309092012

Oktober 28, 2015 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, der Musik-Tipp der Woche, angereichert durch eine Ankündigung des Tages und eine Anmaßung des Tages, zusätzlich verfeinert durch die Werbung des Tages und einem Traum des Tages

„„„„„„„„„„„„„„„„´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´
´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´„„„„„„„„„„„„`
23.Oktober, 21.45 Uhr, ARTE
Arnold Schönberg: „Moses und Aron“, Paris, Opéra Bastille
.

´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´„„„„„„„„„„„„
„„„„„„„„„„„„„„„„´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´´

IMG_0806

Schönbergs Musik in meinem Vinyl-Angebot, immerhin mit Kandinsky-Cover dekoriert, nicht selbstverständlich für die 70er Jahre in der DDR.

Erstmalig sah und hörte ich „Moses und Aron“ 1975 in Dresden, natürlich nicht in der Semperoper, die erst im Winter 1985 mit Webers „Freischütz“ neu eröffnet wurde.
Während der vier Jahrzehnte zuvor fungierte das Schauspielhaus, gleichfalls in unmittelbarer Zwinger-Nähe, als Stätte zur Pflege der Dresdner Opernkultur.

Meine Kenntnis von Schönbergs Musik reduzierte sich damals auf „Pierrot Lunaire“, „Verklärte Nacht“, 2.Kammersinfonie und die „Gurre-Lieder“, veröffentlicht bei DDR-Eterna. In öffentlichen Konzerten dümpelte dessen Musik aber eher in Randzonen.

Ein kultivierter, gleichberechtigter Kartenverkauf für diese Aufführung wurde natürlich nicht organisiert.
Als beknackter Student mit langen Haaren und einem Bart bis in die Kniekehlen hatte ich keine Chance.
Die Tickets erhielten weitgehend treu-dusslige Staats-Funktionäre, die Strawinski nicht von Chopin unterscheiden konnten, Schönberg als landschaftliche Erhebung mit schöner Aussicht im Harz klassifizierten und deren einzige Reaktion auf diese Inszenierung sicher darin bestand, während des Auftritts vier nackter Jungfrauen eine Funktionärs-Latte zu entwickeln, um deswegen dann mit klammer Funktionärs-Hose die hohe Qualität der Aufführung zu rühmen.

Dennoch erkämpfte ich ein Billett.
Ich werkelte ein Schild „Suche Karte“ zusammen, hing es vor meine Studentenbrust und umkreiste aufdringlich den wallenden Besucherstrom.
Ich betete zu allen Teilnehmern des Alten Testaments, einschließlich Moses und Aron und wurde erhört.
Doch bezahlte ich einen Preis, der mein Stipendium erheblich dezimierte, wodurch ich alle Besäufnisse der kommenden Wochen meiden und meine Lebensmittel-Tüte weitgehend mit Schnittlauch und Schwarzbrot füllen musste.
Ich hatte es aber nie bereut. Denn diese einhundert Minuten prägten maßgeblich mein Verständnis für die Musik des 20.Jahrhunderts.
Harry Kupfer inszenierte die Erstaufführung auf Deutschem Demokratischen Boden, Rainer Goldberg sang Aron und Werner Haseleu sprach Moses (Sprechrolle). Am Pult zirkulierte Siefried Kurz die einzelnen Instrumentengruppen in die korrekte Ordnung.

Knapp zwanzig Jahre später erneut Schönbergs Goldkalb-Oper (1994), diesmal in Leipzig unter der Regie von George Tabori, damals hatte er schon acht Jahrzehnte seines Lebens bewältigt.
Nicht so der ganz große Durchmarsch, auf der Bühne weitgehend nur Stühle, eigentlich ein Konzept, dass meiner Gier nach schrägen Alternativen durchaus entsprach.
Doch wurde ich mitnichten erhitzt, irgendwie bleichte alles vor sich hin und die Textverständlichkeit war lausig, bei dieser Oper ein Fiasko.

bastille-2

Paris, Opéra Bastille, Paris

Die Nationaloper Paris spielt auf zwei Bühnen. Neben der Opéra Bastille, 1989 eröffnet und auch zeitgenössischer Musik zugänglich, orientiert sich die neobarocke Opéra Garnier aus dem 19. Jahrhundert auf ein eher traditionelles Repertoire, einschließlich Ballett-Aufführungen.

Am Freitag nun auf ARTE „Moses und Aron“ aus der Opéra Bastille in Paris.

Die Regie übernahm Romeo Castellucci, der auch schon in Leipzig inszenierte.
Am Pult wirbelt Philippe Jordan, momentan auch Chef der Wiener Symphoniker.
Die Titelrollen trällern Thomas Johannes Mayer und John Graham-Halle, die mir unbekannt sind, was aber wiederum bedeutungslos ist.

Parallel zur Sendezeit gibt es auf ARD eine „Tatort“-Wiederholung, bei ZDF „SOKO Leipzig“, RTL bietet Jauch und Gottschalk, Sat 1 erfreut durch „The Voice of Germany“ (noch nie gehört) und Pro Sieben durch einen Aktion-Thriller, RTL II, Kabel Eins und VOX überraschen mit Horror-und Krimiserien (noch nie gehört), NDR bringt Talk aus Hannover, HR bringt gleichfalls Talk aus Hannover, ebenso bringt RBB Talk aus Hannover…da sollten Moses und Aron doch hoffen dürfen.
—————
———–
Erste Zugabe

Ankündigung des Tages
Aus dem kurzen Interview eines Radiosenders:

„Wenn das Spiel angepfiffen wird, will ich das Spiel gewinnen. Ich will es nicht besonders gewinnen. Ich will es nur gewinnen“ (Trainer Tuchel).
Sicher liegt eine tiefe Kausalität in diesen Worten, doch entschließt sie sich mir nicht.
————–
———

Zweite Zugabe

Werbung des Tages
Auf dem Bildschirm erscheint der norwegische Geirangerfjord, ein Sprecher beschwört die Erkundung der Hurtigruten mit einer konfortablen und schwimmenden Touristenkiste. (geschätzte Aufnahmefähigkeit: elftausend Passagiere)
Die Stimme wuchtet abschließend ein kerniges „Norwegen für Entdecker“ über das Wasser.

Digital Camera P42001

Digital Camera P42001

Auf der Fähre nach Norwegen, mit Kopfhörer und Zelt (!!!!!), 1997.
Ich erinnere mich, während dieser Stunden vorrangig Björk und Pink Floyd („Animals“, Ummagumma“) aufgelegt zu haben.
Björk ist ja nun Isländerin, doch Norwegen liegt auch ziemlich nördlich.
———————
————-
Dritte Zugabe

Anmaßung des Tages

IMG_0796

Man muss ihn mögen, diesen Zusammenhang zwischen Tübkes Kasperle-Theater in Bad Frankenhausen und der Sixtinischen Kapelle in Rom.
Neben Michelangelo haben die Kapellenwände u.a. auch Ghirlandaio, dessen Bild „Alter Mann mit Enkel“ ich auch heute noch liebe und der unfassbare Signorelli bemalt, vor dessen Fresko ich im Dom von Orvieto stand und mich ein Gefühl des optischen Terrors überwältigte. Das sind für mich positive Akzente.
Und danach soll ich Bad Frankenhausen besuchen, die „Sixtina des Nordens“?
Aber nicht doch!
——————
————-

Vierte Zugabe

Traum des Tages

I Have a Dream

Der gemeinsame Aufenthalt von Niersbach und Beckenbauer in der ehemaligen Zelle von Hoeneß.
Und in Anlehnung an mittelalterliche Marter-Methoden müsste ständig über Monate hinweg, Tag und Nacht ein Fußball gegen die Wand in der benachbarten Kabine prallen.
Das wäre lustig.
————–
———
——

juergenhennekunstkritik.wordpress.com
juergen-henne-leipzig@web.de
ILEFLoffsen2005198309092012dorHH

Oktober 20, 2015 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und eine Ausstellung

Diese Information erhielt ich soeben und bekam feuchte Augen.
Ich gebe sie unkommentiert weiter.

Im unteren Text werden außerdem noch Cage und Twombly angegeben!
——————————————–
—————————
——————

Meistergrafik von der Moderne bis zur Gegenwart

Joseph Beuys, Eduardo Chillida, Christo, Jim Dine, Günter Fruhtrunk, Robert Indiana, Jasper Johns, Donald Judd, Sol LeWitt, Roy Lichtenstein, Dieter Roth, Antoni Tàpies, Andy Warhol, Agnes Martin, Sigmar Polke, Robert Rauschenberg, Gerhard Richter u.a.

Presse-Vorbesichtigung: Mittwoch, 21. Oktober 2015, 18 Uhr (Treffpunkt: Lichthof der HGB). Bitte bestätigen Sie Ihre Teilnahme kurz via E-Mail an giebeler@hgb-leipzig.de oder telefonisch unter 0341 – 21 35 133.

Eröffnung: Mi. 21. Oktober 2015, 19:30 Uhr

Es sprechen:
Prof. Dr. Ana Dimke, Rektorin der HGB Leipzig
Dr. Ralf F. Hartmann, Kurator

Dauer: 22. Oktober – 28. November 2015

Öffnungszeiten: Di. – Fr., 12 – 18 Uhr, Sa. 12 – 17 Uhr

Ort: Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Wächterstraße 11, 04107 Leipzig

>>> Führungen: 4. und 25. November, jeweils 17 Uhr

Erstmalig sind Glanzstücke der über viele Jahre gewachsenen Sammlung von Grafiken und Zeichnungen des 20. Jahrhunderts des Berliner Sammlers und Galeristen P.W. Richard außerhalb Berlins in der Galerie der HGB zu sehen. Die umfangreiche Ausstellung vereinigt ausgewählte Meisterwerke der Zeit zwischen 1950 und heute und gibt damit einen repräsentativen Überblick über die künstlerischen Entwicklungen von der modernen bis zur zeitgenössischen Kunst. Sie zeigt zum Teil großformatige und experimentelle druckgrafische Werke nahezu aller Techniken sowie ausgesuchte Zeichnungen von namhaften Künstlern, die die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Im Mittelpunkt stehen Werke der amerikanischen Kunst seit den 50er Jahren, aber auch solche Arbeiten, mit denen europäische und deutsche Künstler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder den Anschluss an die internationalen Entwicklungen vollzogen.

Einen Schwerpunkt bilden insbesondere die Werke der amerikanischen Pop‐Art und des Nouveau Réalisme um Andy Warhol und Roy Lichtenstein, Jasper Johns und Robert Rauschenberg auf der einen Seite sowie Antoni Tàpies und Eduardo Chillida auf europäischer Seite. Ergänzt werden sie von außergewöhnlichen Arbeiten solcher Künstler wie z.B. Cy Twombly oder auch John Cage, der nicht nur als Musiker produktiv war, sondern als ein früher Vertreter der Cross Culture gilt. Anhand der grafischen Arbeiten, einem oft in Ausstellungen vernachlässigten Medium, offenbart diese Zusammenschau in ihrer Konzentration die unterschiedlichen Entwicklungen und Strömungen der modernen Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Nordamerika und Europa.

Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig

Academy of Visual Arts

Meike Giebeler

Presse‐ und Öffentlichkeitsarbeit

Wächterstraße 11 | 04107 Leipzig

Tel. +49 (0) 341 2135 – 133/ Fax – 101

presse@hgb‐leipzig.de | http://www.hgb‐leipzig.de


Meike Giebeler
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Academy of Visual Arts
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Wächterstraße 11
D-04107 Leipzig
Tel. +49 (0) 341 2135 – 133
Fax +49 (0) 341 2135 – 101
giebeler@hgb-leipzig.de
http://www.hgb-leipzig.de

Oktober 12, 2015 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne , Charlotte Roches „Mädchen für alles“.Anschließend ein Beitrag meiner begehrten Serie: „Wo ist Jürgen“, gefolgt von meiner ähnlich begehrten Serie: „Die Erinnerung des Tages.“

DSC06698a

Da sündige ich doch eher beim Apfeldiebstahl als bei Charlotte Roches „Literatur“ eine Netzhautverknotung zu riskieren.

Vorabdruck von Charlotte Roches „Mädchen für alles“ in einer Beilage des Spiegels

„Jetzt gehen die wieder an meinen Kühlschrank. Die sind wie eine Meute hungriger Wölfe. Oder sagt man Rudel? Egal. Alle haben sich in unserem Haus verteilt. Manche sitzen sogar auf unserem Bett und quatschen schon ein bisschen. Hoffentlich bleibt’s dabei. Ey, wehe. In der Küche findet so was wie eine Stehparty im Sitzen statt. Auf der Arbeitsfläche……“

„Wenn ich jetzt hier rumlaufe und eine Flappe ziehe, wie ich gern würde, denken alle, ich bin eine frustrierte Hausfrau, also lächele ich, ich versuche das Lächeln so natürlich wie möglich aussehen zu lassen…….
….Ich verlangsame meine Schritte, versuche das natürlichste Lächeln überhaupt, schaue nur den Bruchteil einer Sekunde in den Spiegel und finde das Lächeln gar nicht natürlich. Scheiße, klappt nicht, das Überspielen meiner wahren Gefühle. Mein Gesichtsausdruck sieht eher verzweifelt aus als locker, glücklich, frei….“

„Ich habe auch ganz fatale Gedanken über meinen Mann, ich finde ihn schwach seiner Familie gegenüber. Wenn man eine Frau hat, muss man ihr gegenüber loyal sein und nicht mehr der übergriffigen Familie von früher. Wie heißt die Kackfamilie, aus der man kommt? Kernfamilie? Warum ist das bei uns nicht so wie bei den Tieren. Die meißten gehen doch einfach weg von den Eltern, wenn sie geschlechtsreif sind, also bei uns wäre das so mit vierzehn. Das fänd ich gut. Und dann, wie im Tierreich, sieht man auch seine Eltern nie wieder. Danke fürs Großziehen und tschüß, dann hat man die nicht an der Backe, bis die was?, achtundneunzig sind. Oh Gott. Dann müsste ich auch jetzt nicht klarkommen mit Jörgs Familie. Dann hätten wir nur die unsere. Wär das schön., nur die eigene, ausgesuchte……“

Der „Spiegel“ liegt nun schon seit Jahren außerhalb meiner Bedürfnisse nach Informationen mit vertiefender Grundanlage. Doch manchmal wage ich doch noch einige Versuche. Ich vermute, dass in der vergangenen Woche meine letzte Bemühung scheiterte.
„Feuchtgebiete“ war schon grottig, mitnichten wegen der thematischen Eingrenzung, jeder will einmal eine richtige Drecksau sein. Aber trotzdem möchte ich Literatur lesen und keinen heruntergelaberten Realismus-Müll.

Ich begrüße unbedingt schmerzhafte Überrumpelungen, gnadenlose Einschnitte in festgezurrte Beton-Ketten, Tabu-Brüche, tiefe Schürfungen in altem Quark.
Duchamp, Hugo Ball, Cocteau, Impessionisten, Bauhaus, Fauves, Beckett, Joyce, Kafka, Debussy oder Strawinski, Glass, Feldman, Christo, die den gemeinen Spießbürger der entsprechenden Zeit bis zum Brechreiz nervten, die gewichtige Akzente setzten und heute auf Grund ihrer hohen Qualität zu Recht die Kulturgeschichte dominieren.

Natürlich ist auch die Zeit Henry Millers, Genets oder Bukowskis vorbei, die Romane und Dramen schrieben, welche sich auch nach dem kommenden Urknall in der Literaturgeschichte behaupten werden und eben auch ein neues sexuelles Verständnis beschwörten, mit hohen intellektuellen und sprachäshetischen Ansprüchen.
Von diesem Level ist Charlotte Roche ähnlich weit entfernt wie Erich Eichhörnchen von einer schwimmenden Bewältigung des Pazifiks.
Muss natürlich nicht sein. Aber wenigstens einen Ansatz, wenigstens die fast unsichtbare Markierung einer Reflexion, einer Verfremdung, eines sprachlichen Bildes, welches mich überrascht.
Doch Roches Arbeit mit dem Bagger, der Scheiße, Rotz, Schweiß, ausgedrückte Anal-Furunkel und Schamhaar-Reste zwischen die Buchseiten schmettert, mit denen Rückstände von Pisse auf Klobrillen in öffentlichen Anstalten entfernt wurden, regt mich nicht auf, erschüttert nicht. Nur Müdigkeit kann die Reaktion sein.
Roches zweiter Gurke „Schoßgebete“ habe ich mich verweigert.

Denn ich nähere mich einem Alter, ab dem ich meine Literatur sensibel auswählen sollte. Auch eingedenk der Rubrik: „Was ich immer schon einmal lesen wollte!“
Vielleicht endlich Proust (Auf der Suche…“), noch etwas Arno Schmidt, Handke und überhaupt die aktuelle Literatur unserer beiden deutschsprachigen Nachbarländer.
Die Entdeckung von Klaus Hoffers „Bei den Bieresch“ könnte mich dazu außerordentlich animieren.

Doch Charlotte Roches Literatur wird mir mitnichten meinen Blick auf das Bücherregal versauen.

Auch dieser Vorabdruck lässt erneut ein konzentriertes Grauen vermuten.

Ich habe die Augen geschlossen und blindlings mit einem Bleistift eine beliebige Stelle aus diesem Vorabdruck im „Spiegel“ abgesteckt.
Die Auszüge sind also keineswegs besonders beknackte Passagen, sondern Charlotte Roches selbstverständliche Schreib-Kultur.

„Die sind wie eine Meute hungriger Wölfe“

Dieses Bild nutzten schon die altgriechischen Vorsokratiker.
Und dann diese interessierte Zugabe: „Oder sagt man Rudel?“

Ch.Roche beleuchtet ihre Probleme eben von allen Seiten.

Oder der rasante Hinweis auf die frühe Nestflucht in der Tierwelt, anders als beim menschlichen Aufzuchverhalten.
Charlotte ist zwar ein Originalitätsfrettchen, doch dieses Verhalten haben schon die Mammutjäger in Lascaux an ihre Höhlenwände gemalt.

Und dann die Kackfamilien, Kernfamilien, Eltern mit achtundneunzig, die man nicht mehr an der Backe hat. Und Jörgs Familie.
Im Grunde ist das ein Martyrium für alle einigermaßen feinsinnige Seelen.

„Wenn ich jetzt hier rumlaufe und eine Flappe ziehe, wie ich gern würde, denken alle, ich bin eine frustrierte Hausfrau, also lächele ich, ich versuche das Lächeln so natürlich wie möglich aussehen zu lassen…….
….Ich verlangsame meine Schritte, versuche das natürlichste Lächeln überhaupt, schaue nur den Bruchteil einer Sekunde in den Spiegel und finde das Lächeln gar nicht natürlich. Scheiße, klappt nicht, das Überspielen meiner wahren Gefühle. Mein Gesichtsausdruck sieht eher verzweifelt aus als locker,
glücklich, frei….“

Eine meiner Lieblingspassagen. Dieser Text ist nicht nur unterirdisch, er nähert sich dem Mittelpunkt der Erde. Armer Saknussemm, hoffentlich ist er blind geworden.

Merwürdig und bedenklich, dass den Verlagen, offiziellen Literaturkritikern und Preisverteilern bei dem Hype um Charlotte Roche nicht allmählich unbehaglich wird.
Wieso müssen dichtende Dilettanten immer glauben, eine geniale Grundausstattung auszuatmen, weil es ihnen gelegentlich gelingt, Subjekt, Objekt und Prädikat fehlerfrei zu verbinden.

In meinem Schreibtisch stapelt sich mittlerweile auch ein gerüttelt Maß an eigener Schreiberei. Doch wurden meine Gene mit einer Nuance von Selbstzweifeln beschenkt, Gott sei Dank.
Und ich habe die Einsicht und den Stolz, meinen Mitmenschen keine vollendete, doch zumindest bemerkenswerte Literatur anzubieten.
Wer könnte die Aufgabe übernehmen, auch Charlotte Roche in die Welt der Selbstzweifel einzuführen.

Außerdem ist Kunst, einschließlich der Literatur, mitnichten eine Frage des Geschmacks.

Digital Camera P42001

Digital Camera P42001

Meine Reaktion auf die Bücher Charlotte Roches. Gleichzeitig Teil 2 von „Wo ist Jürgen?

—-

Wo ist Jürgen? (Teil 2)

Schwierigkeitsgrad IV

Schwierigkeitsgrade

I sehr schwer, fast unlösbar
II schwer
III mittel, lösbar
IV leicht
V für Idioten

Lösung Teil 1 vom 25.September
Paris, Blick auf Notre Dame

—————————

Erinnerung des Tages (Teil 1)

Gestern eine Reporterin auf irgendeinem Fernsehprogramm:

„Auch die Bundeskanzlerin kann sich noch genau an den Tag der deutschen Einheit erinnern.“

Die Bundeskanzlerin erscheint im Bild und „erinnert“ sich:

„Es ist schön, dass wir heute gemeinsam den 25. Jahrestag der deutschen Vereinigung feiern können.“

Die Bundeskanzlerin entfernt sich, das war’s. Pumpe.

Eine feine Erinnerung. Da kann ich auch mein Frettchen fragen.


Musik des Tages

Thurston Moore, ehemals Sonic Youth: „Schizophrenia“
Gibt es bei You Tube. Den Pegel für Lautstärke unbedingt bis an den Rand führen, bis die Ohren schmerzen.


juergenhennekunstkritik.wordpress.com
juergen-henne-leipzig@web.de
ILEFLoffsen2005198309092012

 

Oktober 5, 2015 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar