Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne ohne Netzwerk und Willi Baumeister mit Netzwerk im Museum Gunzenhauser in Chemnitz

Willi Baumeister, „Badende“, 1912, Tempera auf Karton.

Mein Gedächtnis aktiviert entspannt Erinnerungen an Paul Cezannes Badeszenen. Doch trotz dieser entspannten Erinnerungen sehe ich schon in diesem frühen Bild das individuell hohe malerische Vermögen Willi Baumeisters.

Willi Baumeister, „Flächenkräfte“, 1920, Öl, Bleistift, Spachtelkitt, Sand.

Mein Gedächtnis aktiviert entspannt Erinnerungen an Kasimir Malewitsch

Willi Baumeister, „Personnage vert“, 1926/27.

Jawohl, mein Gedächtnis aktiviert wiederum entspannt Erinnerungen, diesmal an Fernand Léger.

Aber so ist das eben, keine Kunst beginnt im traditionsleeren Raum. Man könnte sich dabei z.B. die frühen Bilder von Malewitsch und Kandinsky ansehen. Dadurch wird natürlich auch nicht das kleinste Quantum der Bedeutung von z.B Kandinsky, Malewitsch, Baumeister…für die Kunstgeschichte des 20. Jahrh. abgebaut.

Während des 2. Weltkrieges schrieb Baumeister „Das Unbekannte in der Kunst“, ein Buch, welches im Deutschland der Nachkriegszeit eine außerordentliche Wirkung erwarb. Er pries die Abstraktion als Ursprung und Ziel aller Kreativitäten, als universelle Botschaft, die inhaltlich und formal im künstlerichen Prozess entsteht. Baumeister zelebriert zunächst gedanklich den Übergang vom chaotischen Naturzustand zur Ordnung im Rahmen der Kunst und als Ziel die Veranschaulichung der Natur-Mysterien. Nun gut, das alles muss man mögen und ist nicht immer einfach zu verarbeiten.

Dabei sieht er neben der Abhängigkeit der Abstraktin von Naturzyklen die Verwurzelung in archaischen, auch außereuropäischen Kulturen. So sammelte er seit den 1930iger Jahren paläontologische Funde, bearbeitete sie und zelebrierte in seinen heimatlichen Räumen die Verbindung von z.B. hornalten Streitäxten und Faustkeilen mit eigenen Werken. Also Faustkeile, mit denen einst frühmenschliche Jäger den Oberschenkel eines Mammuts zerfleischten.

Willi Baumeister, „Dialog“, 1944.

In Stuttgart 1889 geboren, begann Baumeister 1905 eine Lehre als Dekorationsmaler, gleichzeitig studierte er an der Stuttgarter Kunstakademie, nach Beendigung des ersten Weltkriegs nahm ihn Adolf Hölzel in seine Klasse auf ( gemeinsam mit u.a. Itten, Schlemmer, Ackermann, Stenner, siehe mein Beitrag vom 27. Juli ). Hölzel agierte sicherlich bedeutsam als Katalysator am Beginn der Moderne, doch als höchst bedeutsamen Maler sollte man ihn nicht einordnen. Als richtig große Nummer verrichtete er aber seine Arbeit als Lehrer, wobei er darauf verzichtete, seinen Schülern den eigenen malerischen Sound aufzudrängen. Er ließ jedem seiner Zöglinge den eigenen künstlerischen Senf mischen.

Im Zusammenhang mit dieser wunderbaren Eigenschaft im kunstpädagogischen Bereich denke ich umgehend an Gustave Moreau (1826/1898), mit seinem symbolistischen Kram für mich ein Gigant meiner frühen Jahre. Unter seiner toleranten „Aufsicht“ standen u.a. Rouault, Marquet und Matisse vor der Staffelei. Es wäre vergnüglich, einmal die Kunst Moreaus und seiner Schüler zu vergleichen.

Baumeister schickte 1927 einige Bilder an die Veranstalter der Großen Berliner Kunstausstellung, die akzeptiert wurden und erhielt eine Personalausstellung in Paris. Er lehrte an der Frankfurter Kunstgewerbeschule. Eine Einladung in das Bauhaus lehnte er Ende der 20er Jahre ab und erhielt eine Professur am Beginn der 30er Jahre in Frankfurt. 1937 wurden innerhalb der widerwärtigen Aktion „Entartete Kunst“ zahlreiche Bilder Baumeisters aus zahlreichen, öffentlich zugänglichen Sammlungen entfernt.

Nach dem 2. Weltkrieg übernahm er eine Professur an der Stuttgarter Kunstakademie, lieferte Bilder an die Biennalen in Venedig und Sao Paolo und nahm 1955 an der ersten documenta in Kassel teil, während deren Verlauf er sich vom irdischen Leben verabschiedete.

Willi Baumeister, „Schwarzer Fels auf Gelb“, 1953. Öl mit Kunstharz und Sand auf Leinwand

Willi Baumeister werkelte aber nicht in irgendeinem Eremitenverlies. Ihn trieb es zu vielgestaltigen Kontaktaufnahmen und zu einer Enflussnahme auf kulturelle Abläufe. Die Ausstellungsparole beim Chemnitzer Gunzenhauser wurde entsprechend gewählt: „Das Kreative geht dem Unbekannten kühn entgegen.“ Willi Baumeister und sein Netzwerk.

So gründete er schon 1919 in Stuttgart gemeinsam mit Schlemmer die Künstlertruppe „Üecht“, nach 1945 die Vereinigung „Zen“, gemeinsam u.a. mit R. Geiger und F. Winter und spielte eine eifrige Rolle bei der Bewerkstelligung des „Deutschen Künstlerbundes“. Er kannte keine Kontaktscheu und kultivierte seine Verbindungen zu anderen Kunstbranchen, z.B. Werbegrafik, Architektur ( Le Corbusier ).

Und auch im eigenen Oeuvre gab es keine Grenzen. Er pendelte zwischen expressionistischen und impressionistischen Einflüssen, zwischen Kubismus und Konstruktivismus, malte ungegenständlich geometrisch und ungegenständlich ungeometrisch, mitunter im Duktus der Höhlenmalerei, manchmal mit Sand, manchmal ohne Sand. Immer wieder durchmischten sich unterschiedliche Gestaltungselemente, flossen auseinander und durchmischten sich erneut. Oft entfalteten sich seine Stile zeitlich parallel.

Sicherlich genügen nicht ausnahmslos alle ausgestellten Arbeiten höchsten Qualitätsmaßstäben, auch nicht die Bilder seiner Netzfreunde, die ebenfalls an den Gunzenhauser-Wänden aufgereiht sind (Kandinsky, Moholy Nagy, Schwitters, Jawlensky, Malewitsch, Schlemmer, Corbusier….). Doch bleibt natürlich der Eindruck einer bemerkenswerten Übersicht über ein Kapitel der Kunst-und Kulturgeschichte Deutschlands während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Und es bleibt meine Gewissheit, daß vor allem die Bilder aus dem Spätwerk Willi Baumeisters auch nach dem kommenden Urknall die kunsthistorische Literatur veredeln werden, siehe unten.

Willi Baumeister, „Monturi mir Rot und Blau“, 1953. Tempera, Sand auf Harfaserplatte.

Willi Baumeister, „Montaru mit Gondel, 1954.

Willi Baumeister, „Taru-Turi, 1954, Öl mit Kunstharz und Sand auf Hartfaserplatte.

Bis 4. Februar 2024, Di, Do – So, Feiertag 11-18 Uhr, Mi 14 – 21 Uhr

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November 27, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Réne Magritte und Lessines in Wallonien

Lessines (Wallonien), Geburtshaus Réne Magrittes.

Die Bilder entstanden innerhalb unserer mehrwöchigen Belgien-Tour.

Detail

Im Rahmen meiner fast hysterischen Begierde nach den Bildern Réne Magrittes vor über fünfzig Jahren und der üppigen Distanz zu dieser Kunst im reifen Alter bitte ich um eine Gedenkminute zu dessen 125. Geburtstag.

Ich nutze gleichzeitig diesen Anlaß, meine surrealistichsten Grüße in das Himmels-Segment zu senden, in dem z.B. M. Ernst und Y. Tanguy, P. Delvaux, S. Dali, R. Matta, und A. Masson residieren und die kosmischen Wände mit Pfeifen und Äpfeln und Fesselballons, mit brennenden Giraffen und weichen Uhren, mit nackten, bleichen Frauen auf Bahnhöfen und Vogelmenschen, mit obskuren Objekten in horizontlosen Landschaften und dröhnenden Grimassen bedecken.

Lessines, Denkmal für Magritte

Lessines, Wandbemalung

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November 21, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und zwei November-Rothkos

Kalendarischer November-Rothko an der heimischen Wand.

Orang and Tan“, 1954, National Gallery of Art Washington

Im Verlauf einer frühabendlichen November-Stunde am vergangenen Wochenende gab es im mitunter unsäglichen Kram-Kübel der deutschen Fernseh-Anstalten ein erfreuliches Intermezzo. Ruhig, unaufgeregt und kompetent wurde vom Leben und der Kunst Mark Rothkos erzählt.

Ich nippte an meinem Weinglas, sah Mark Rothko, Clyford Still, Willem de Kooning, Barnett Newman, Jackson Pollock, Robert Motherwell…..auf einer Fotografie vereint und mein abstraktes Expressionismus-Gemüt aktivierte lustvoll Erinnerungen an vergangene Jahrzehnte.

Ich erinnerte mich z.B. an den Aufenthalt im New Yorker Museum of Modern Art, an die Mark-Rothko-Retrospektive in München (2008), natürlich gleichfalls an die Ausstellung „Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“ in Potsdam (Museum Barberini, Sommer 2022),……usw. und ich verspürte erneut die Einsicht, dass wohl nur wenige Strömungen der bildenden Kunst mein Kunstverständnis derartig geprägt haben wie der Abstrakte Expressionismus aus dem Norden Amerikas.

Wobei sich bald auch in Europa (Deutschland, Frankreich) seit den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ähnliche Entwicklungen abzeichneten. (Informel, Tachismus, Lyrische Abstraktion). E. Schumacher, G. Mathieu. E. Baumeister, S. Poliakoff,…zeugen mit Bildern höchster Qualität davon.

Nach dem Bildschirm-Rothko stellte ich mich mit dem Weinglas, an dem ich kontinuierlich nippte, vor unseren kalendarischen November-Rothko, s.o.

Eine clevere Verwendung dieser frühabendlichen November-Stunde am vergangenen Wochenende.

Dazu passt auch der Hinweis daß Gunzenhauser in Chemnitz bis 4. Februar 2024 die Kunst Emil Baumeisters feiert, sollte man als Pflichtbesuch einordnen (s.o).

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November 15, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, das Kunsthaus in Apolda, Marc Chagalls Grafik und Wim Wenders mit Anselm Kiefer auf der Leinwand

Kunsthaus Apolda

Ich beschränke mich auf einen Ausstellungstipp ohne Bewertungsversuche. Meine Zuneigung zu der Kunst Chagalls bewegte sich jeher im Bereich solide gefestigter Distanz und bis heute ist keine spürbare Veränderung eingetreten. Doch der Kunstverein in Apolda hat es unbedingt verdient, daß man dieses Haus kontinuierlich besucht und in dieser Form auch finanziell unterstützt, selbst wenn das individuelle Glücksgefühl sich eher bescheiden ankündigt.

Die Ausstellung „Marc Chagall. Von Witebsk bis Paris“ (bis 17.Dezember) zeigt etwa siebzig, Grafiken, Lithografien und Farblithografien, Holzschnitte und Farbholzschnitte , die auf einer durchwachsenen Qualitätsskala eingeordnet werden können. Doch Chagall gelang eine Lebensspanne von fast achtundneunzig Jahren (1887/1985), deshalb gönnte er sich auch mitunter die Herstellung von mittelmäßiger und mißlungener Kunst. Egon Schiele z.B., wenige Zeit nach Chagall geboren, blieben nur achtundzwanzig Jahre (1890/1918), die er dann aber für ausnahmslos überragende Kunst nutzte.

Alle Blätter stammen aus der Dauerleihgabe der Sparkasse Münsterland Ost im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster.

Ausstellungsplakat

„Die Dächer“, Farblithografie, Paris 1956

In meiner Wahrnehmung das qualitätsvollste Blatt der Ausstellung

Das Programm für 2024

„Rembrand – Radierungen“. Aus Wiener Beständen.

„Meret Oppenheim & Friends“. Das ist die mit der Felltasse, („Déjeuner en fourrure“, Frühstück mit Pelztasse). Als Freunde sind z.B. auch Duchamp, Ray, Arp, Székessy, Spoerri,….an der Ausstellung beteiligt.

Der rote Schirm. Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg“.

Film der Woche

„Anselm – Das Rauschen der Zeit“, Wim Wenders` Sicht auf Anselm Kiefer. Mitunter eindrucksvoll bis spektakulär.

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November 8, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar