Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, Helena Tulve und die Einzigartigkeit baltischer Musikkultur

Helena Tulve, u.a. mit den Stücken „Lijnen“, „Öö“, „abysses“, „nec ros, nec pluvia“.

Wer die Kraft verloren hat, bei jeder Dröhnung einer fünften Sinfonie an der Wohnungstür möglicherweise ein bösartiges Schicksal hereinbitten zu müssen und sich deshalb im Balkonbeet vergräbt, aber auch kein Bedürfnis mehr aufbauen kann, bei schönen Götterfunken sich heftig zu freuen oder sich im Zentrum von Millionen Umschlingern erwürgen zu lassen, sollte sich als Alternative für Helena Tulve entscheiden.

Wer bei einer Sonate nicht mit dem Hammer auf das Klavier eindreschen möchte, Diabelli nicht huldigen will, schon gar nicht Elise oder Wellington nach der Vitoria-Schlacht, würde bei Helena Tulve vielleicht musikalischen Beistand empfangen.

Auch wenn sich die Wut über einen verlorenen Groschen zur Hysterie steigern sollte und eine Meeresstille mit glücklicher Fahrt in Poes Malstrom endet, wenn bei einer Mondscheinsonate in Capri die rote Sonne im Meer versinkt und die Appassionata in tiefe Traurigkeit stürzt, könnte man die Justierung der Gehörgänge in Richtung Baltikum erwägen und Trost bei Helena Tulve finden.

Denn Helena Tulve ist Estin, geboren 1972 in Tartu.

Die baltischen Staaten sind in Relation zu ihren Bevölkerungszahlen und ihren Truppen erstrangiger Komponisten, Dirigenten, Solisten… nur mit der literarischen Front in Irland der zweiten Hälfte des 19.Jahrh. und der ersten Hälfte des 20 Jahrh. zu vergleichen (Beckett, Shaw, Joyce, Wilde, Yeats, O`Casey…).

Der aktuelle Gewandhausdirigent Leipzigs wäre ein treffendes, doch global keineswegs einmaliges Beispiel für den einzigartigen Status baltischer Musikkultur.

Zugabe

Nach Schallplatten mit Zappa („Hot Rats“), Bowie („The Rise and Fall of Ziggy Stardust…“) und Van Morrison („Astral Weeks“) „schmuggelte“ meine selige Großmutter Mitte der 70er Jahre die Stücke des irischen Schriftstellers Samuel Beckett als erstes Buch über die deutsch-deutsche Grenze.
Helena Tulve zählte damals etwa 2-3 Jahre.


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August 30, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Ottmar Gerster, Musikschule Ottmar Gerster, Ottmar-Gerster-Straße, der Intellekt der Obstfliege, Käthes Hilfe für Russland, der antisemitische Fjodor Michailowitsch im 19.Jahrhundert, Beseitigungstonnen, Pleistozän-Menschen, die Gottbegnadeten-Liste und das Eisenhüttenkombinat Ost



Nicht selten passiere ich dieses Haus in Leipzigs Zentrum, vom Neuen Rathaus nur durch eine Kreuzung getrennt und in überschaubarer Nähe zu Grapikhochschule, Musikhochschule und zur Galerie für Zeitgenössische Kunst.
Bei der Durchdringung der Geschichte und der Nebenwege dieser „Musikschule Ottmar Gerster“ bin ich aber etwas überfordert.
Eine Einrichtung für musikalische Ausbildung in Weimar wurde nach einigen Vorgängern selbstständig und erhielt 1966 den Namen Ottmar Gersters, 2016 verschwand der Name Gerster im Ekel-Kübel und wurde durch Johann Nepomuk Hummel ersetzt, Zeitgenosse Beethovens und Schüler Mozarts.

Aber auch in diesem Leipziger Haus wurde im Namen Ottmar Gersters Musik gelehrt und gespielt (s.o.).
Irgendwann nach 1989 ging diese Truppe dann nach Leipzig/Markkleeberg und agiert seit einigen Jahren in Borna, unweit von Leipzig.
Im Grunde interessiert mich die Geschichte und der aktuelle Zustand dieser Schule auffallend wenig.
Auch über deren Anspruch und Ausbildungsqualität habe ich mich nur oberflächlich informiert.
Nur die stabile Bewahrung des Namens Ottmar Gersters irritiert mich doch erheblich.
Und mir wurde zugetragen, dass nach der Ausschreibung für den Direktorenposten sich nur eine Bewerbung im schulischen Postkasten verteilte.
Erscheint mir etwas dürftig.

Aber eben die Zelebrierung Gersters als Namensträger einer Musikschule muss man natürlich mögen, vor allem innerhalb der modischen Entwicklungen, mit dümmlich-hysterischen Aktionen dieses und jenes Straßenschild Leipzigs zu zerhacken.
Die Stigmatisierung Eichendorffs und seiner literarischen Werke wurde erst vor kurzem in Erwägung gezogen.
Ich vermute, dass keiner dieser quengelnden Brüllaffen bis zu ihren aktuellen Forderungen jemals eine Zeile von Eichendorff gelesen hat.

Schon kurz nach Deutschlands Vereinheitlichung vor dreißig Jahren wurde z.B. angestrebt, Käthe Kollwitz aus Leipzigs Straßenbild zu vertreiben.
Man berief sich u.a. auf ein Plakat, dass sie 1921 zur Unterstützung einer Hungerhilfe für Russlands Wolga-Gebiet anfertigte („Helft Russland“).

Für diese „Protestler“ mit dem Intellekt einer Obstfliege ergab sich daraus eine klare Linie, denn wer Russland hilft, muss natürlich eine Kommunistensau sein, also werfen wir dieses Straßenschild in die Tonne.
Es kam nicht dazu, ich glaube, ich hätte mich sonst einer Terroristenformation für die Bewahrung von Leipziger Straßenschildern angeschlossen.

Aber bis heute werden von Zeitgenossen in kollektiver Überreizung und dem historischen Verständnis einer Bratkartoffel in Büchern und Reden der Geistesgeschichte, in Aktivitäten und unterlassenen Aktivitäten die Hinweise auf mögliche rassistische, antisemitische, nationalistische, frauenfeindliche, tierfeindliche…Tendenzen gesucht, getrennt von allen geschichtlichen, sozialen, politischen, zeitbezogenen Zusammenhängen auf dieser Erde.

Nicht Bücher werden gelesen, nur noch Wortfetzen, Worte und Wortgruppen.
Und dann wird nach der Beseitigungstonne gebrüllt, um z.B. einen beträchlichen Teil der deutschen Philosophen des 19.Jahrhunderts und einen beträchtlichen Teil der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und einen Teil der deutschen Pädagogen des 19.Jahrhundert darin abzuladen.
Und werft auch noch einen Leipziger Zoo-Gründer dazu und Michael Ende und Ronjas Schriftsteller-Tante,…..es wird kein Ende geben.

Und werft noch einen Blick in Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ für den ich nicht nur eine einzige Lanze, sondern die Lanzen einer gesamten Kavallerie brechen würde.
Ein ziemlich übler Antisemit dieser Fjodor Michailowitsch, aber eben aus der Mitte des 19.Jahrhunderts in einer gesellschaftlich-sozial völlig anderen Konstellation, ihr Knalltüten.
Aber trotzdem hinweg mit den Erniedrigten und Beleidigten, mit Raskolnikow und den Karamasows, werden diese Hüter der gesellschaftlichen Reinheit keifern.

Oder wühlt noch etwas in den Schriften Thomas Manns oder Fontanes, auch bei Wilhelm Raabe wird man fündig.
Voltaire konnte das Wort „Jude“ nicht sprechen, er kotzte es aus.
Der Rassismus bei Lindgren, Ende oder Preußler scheint für diese einfältigen Langweiler eindeutig, weil einmal das Wort „Neger“ geschrieben wurde, vor vielen Jahhrzehnten.
Auch Linné sollte überprüft werden und das Hambacher Schloss muss ohnehin zerstört werden, wenn man den Befehlen dieser schlichten Eiferer folgen würde.

Ich hoffe, es gibt nicht irgendwo eine „Pleistozän-Menschen-Straße“, denn dann würden vielleicht die Tierschützer aufs Parkett treten.
Denn wie diese Pleistozän-Heinis ihre Mammute töteten ist nur schwer erträglich, aber die Kalaschnikow war eben noch nicht erfunden.
Aber trotzdem, haut sie raus aus unserer Menschheitsgeschichte und aus unserem Stadtbild, diese Pleistozän-Unholde, diese Tier-Schinder, würden sicher diese Edel-Kämpfer kreischen.

Man muss natürlich über diese historischen Dinge reden, über harsche Entgleisungen (R.Wagner), über die Widerspieglung des Zeitgeistes, über Menschenverachtung und Verbrechen….. und alles klug und mit viel Wissen einordnen.
Ohne eifernde Exzesse, mit scharfen Intellekt und Verständnis für die Vergangenheit.

Beseitigungstonnen herbeiwuchten und Straßenschilder abschrauben kann jeder Halbdackel.

Und jetzt noch etwas Ottmar Gerster, eben im Zusammenhang mit den Beseitigungstonnen für Kollwitz, Arndt, Pinkert, Lindgreen, Ende, Eichendorff, Pleistozän-Menschen….

Gerster leckte ab 1933 den Nazis die Analöffnungen, änderte danach seine Körperhaltung nicht wesentlich und nagte ab 1949 ganz entspannt an den sozialistisch-kommunistisch-stalinistischen Ausgängen in der menschlichen Leibesmitte der DDR-Strategen.
Und er schrieb grundsätzlich unerträgliche Musik.
Mitunter werden Bezugslinien zu den beachtlichen Kompositionen Karl Amadeus Hartmanns gezogen, was für eine Anmaßung.

Er wurde von Hitler in die „Gottbegnadeten-Liste“ aufgenommen, erhielt in der DDR den Vaterländischen Verdienstorden und war viele Jahre der Vorsitzende des DDR-Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler
Er schrieb Musik zum Tod eines Fliegers (1938), zu Texten Baldur von Schirachs (1933) und zum Heldengedenktag (1939).
Und einige Jahre darauf feierte er musikalisch Karl Marx und das Eisenhüttenkombinat Ost.

Diese Biografie muss man mögen, ein unerträglicher Opportunist der übelsten Ausformung.
Aber ich sehe keine Beseitigungstonnen und keine Schraubenzieher für die Entfernung von Hausdekorationen (s.o) und Straßenschildern.
Denn auch eine Straße in Leipzig/Dölitz trägt den Namen Ottmar Gersters.


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August 13, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, eine Würdigung, ein toleranter Dirigent, eine freudeschönergötterfunkelnde Sinfonie, eine Verrottung und A.Berg, K.A.Hartmann, Orff, Schönberg, Penderecki, Wagner mit Herbert Kegel vor dem Orchester und Schneewittchens Schritt

In diesen Tagen hätte Herbert Kegel ein Jahrhundert seines Lebens vollendet, der beste, toleranteste, wissbegierigste,…Dirigent, der seit dem Zweiten Weltkrieg jemals einem Leipziger Orchester vorstand.
Leipzigs Tageszeitung (LVZ) beschenkte deshalb zu Recht die Leser mit einer angemessenen, wohldosierten Würdigung.

Doch aktivierte man dazu einen Journalisten, der das Blatt gefühlt schon kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg verließ und sich stabil, so vermute ich, seinem achtzigsten Jahrestag nähert.
Eigentlich könnte man sich kommentarlos und milde lächelnd z.B. Alban Bergs Wozzeck einlegen ( Mit Kegel vor dem Orchester ).

Doch bleibt eine Nuance Ärger und Unverständnis, denn ich erahne, dass die alltäglichen Kämpfer an der journalistischen Kulturfront in Leipzig erst wieder antreten, wenn z.B eine schicksalshafte oder eine freudeschönergötterfunkelnde Sinfonie, der arme Wandersgesell aus Dingsda oder die Kaisermania in Dresden beschrieben werden müssen.

Musik des 20 Jahrhunderts und zeitgenössische Tonkunst werden doch eher ignoriert und an der Peripherie journalistischer Bedeutsamkeit abgelegt, wodurch eine eher unerfreuliche Portion zu dem Zustand beigegeben wurde, dass dieser eigentlich wesentliche Teil einer zivilisierten Kultur in Leipzigs Öffentlichkeit ziemlich jämmerlich auf einem unbearbeiteten Acker vor sich hin rottet.
Natürlich abgesehen von den Aktivitäten des wundervoll umtriebigen Steffen Schleiermacher (Musica Nova).

Aber Andris Nelsons wird es in Leipzig schon richten, hoffe ich.
Denn die Balten sind den aktuellen Strömungen der Musik doch eher zugänglicher gesinnt als die trüben Ignoranten hierzulande, deren musikalische Ästhetik rostig im 19.Jahrh. festgezurrt ist.
Ich hatte den Eindruck, dass nach Nelsons Ankündigung, er werde in jedem Konzert ein Stück zeitgenössische Musik dem Publikum vorsetzen, alle Eimer dieser Stadt nicht genügten, damit traditionelle „Musikfreunde“ ihren Ekel auskotzen konnten.

„In Leipzig erinnert beschämend wenig an den sensiblen und kompetenten Sachverwalter der Moderne.“
Gemeint ist Herbert Kegel.

Eine zutreffende Beurteilung im Zeitungsartikel (29.7.2020).

In Leipzig/Probstheida gibt es einen Kegelweg, keinen Herbert-Kegel-Weg.
Sondern einen Kegelweg.
Der Tierschützer würde vielleicht jubilieren und glauben, das Straßenschild verweise auf die Gefährdung der Kegelrobbe an Deutschlands Küsten.

Oder der Geschichts-Student vermutet, dass auf diesem Areal vor vielleicht einhundertzwanzig Jahren durch den Arbeitersportverein Leipzig die erste Kegelbahn gebaut wurde.
An Herbert Kegel denkt auf alle Fälle keine Sau.

Jedenfalls danke ich Rolf Richter, Autor des Artikels, für diesen Beitrag zur Leipziger Musikgeschichte.

Die Bilder zeigen einen Einblick in die Kollektion von Tonträgern aus meinem Herbert-Kegel-Tresor mit dessen Dirigaten (Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig und Dresdner Philharmonie).

Kompositionen von A.Berg, A.Berg, K.A. Hartmann, Orff, Orff, Schönberg, Penderecki, Wagner, von oben nach unten

Ausnahmslos vor über dreißig in der DDR erworben.

Zugabe

Diese scheinbar vierundzwanzigstündische Dauer-Grinserei von Olaf Scholz geht mir allmählich auf die Enzyme.
Als durfte der kleinste Zwerg im kleinsten Zwergenhaus dem schönen Schneewittchen einmal in den Schritt fassen.
Und jetzt sitzt er auf dem kleinsten Zwergen-Stühlchen im kleinen Zwergenhaus und freut sich, dass die anderen Zwerge nicht in den schönen Schneewittchen-Schritt fassen dürfen.
Esken, Borjans, Scholz….was ist das für eine Asthma-Truppe geworden.



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August 3, 2020 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar