Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, Franz Schubert und der Schmadribachfall im Lauterbrunner Tal

Zunächst angemessene Grüße an den Währinger Friedhof, auf dessen Areal Franz Schubert beigesetzt wurde (1828) und anschließend ähnlich angemessene Grüße zum Wiener Zentralfriedhof und zur Grabstätte, in die man Schuberts körperliche Restbestände etwa sechzig Jahre später überführte und dort bis heute lagert. Eine kleine Ätherwellen-Notiz erinnerte mich daran, dass Franz Schubert heute vor zweihundertfünfundzwanzig Jahren geboren wurde.

Wir durchmaßen 1990 den Wiener Zentralfriedhof im Rahmen unserer ersten freiheitlichen Reise außerhalb der deutschen Grenze und ich gönnte mir z.B. auch die Freude, vor Schuberts Grab jeweils ein Thema der vier Sätze seiner Großen Sinfonie in C-Dur zu intonieren. Es gelang mir in Maßen, doch fiel mir auf, dass sich alle Friedhofsvögel recht zügig von mir entfernten und der Gedenkstein für Schubert von Theophil Hansen spürbar erzitterte. Hansen gilt als durchaus bedeutender Architekt des 19. Jahrhunderts, er baute vorrangig in Wien und Griechenland.

Franz Schubert, Große Sinfonie in C-Dur, Staatskapelle Dresden, Wolfgang Sawallisch, Mitschnitt 1967. Die Platte dürfte ich am Beginn der 70er Jahre erworben haben. Cover: „Der Schmadribachfall im Lauterbrunner Tal“ (Schweiz) von Joseph Anton Koch

Neben Beethoven agierte Schubert schon sehr früh mit seinen Sinfonien, mit Kammermusik und Liedern im Zentrum meines pubertären Musik-Interesses, neben Rolling Stones, Hendrix, J.Joplin, Animals, Yardbirds, Van Morrison, Cream, Canned Heat….

Und es zeichnete sich aber bald die eindeutige Tendenz ab, dass Franz Schubert in der Schlacht um meine Gunst triumphieren wird. Und daran hat sich bis zu seinem zweihunderfünfundzwanzigsten Geburtstag nichts geändert. Denn während die Tonträger mit Beethovens Musik doch eher in Nebengelassen abgestellt sind, natürlich gibt es einige Ausnahmen (Klaviersonaten, Streichquartette), muss jedes Teil meines durchaus erklecklichen Angebots von Kompositionen Schuberts mit einem Einsatz rechnen (z.B. alle Sinfonien mit der Dresdner Staatskapelle unter Herbert Blomstedt, bzw. Wolfgang Sawallisch).

Heute werde ich aber in meiner persönlichen Gedenksendung die Lieder der „Winterreise“ bevorzugen.. (s.o.)

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Januar 31, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die eher unregelmäßig bearbeitete Serie „Vorgestern gelesen, gestern gelesen, heute gelesen…….morgen lesen, übermorgen lesen.“ Heute: „Die Gruppe 47“ von Helmut Böttiger.

Links: Inge Schneider-Lengyel, rechts: I.Bachmann und Paul Celan, mittig: ich vermute Enzensberger.

Sie agierte innerhalb der begrenzt toleranten Aufnahmebereitschaft bei den Anwohnern am Bannwald- see eben als „Hex des Bannwaldsees“, die mit wehenden, schwarzen Haaren, rot lackierten Fingernägeln, bemerkenswert auffälliger Kleidung und ähnlich auffälligem Schmuck, mit Glöckchen an den Hosen, auf ihrem Motorrad (sicherlich als Hexen-Besen-Ersatz) durch die bayerische Gegend um Füssen herumdüste. Ein Motorrad, welches sie zu jedem neuen Frühling mit einer anderen Farbe überzog. Nicht unbedingt ein selbstverständlicher Lebensentwurf für die unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Und im Nachkriegsjahr 1947 lud sie außerdem ein Dutzend Schriftsteller in ihr Haus am Bannwaldsee ein und ahnte sicher noch nicht, dass sie eine der bemerkenswertesten und folgenreichsten Aktionen für die bundesdeutsche Literaturgeschichte einleitete.

Aber Ilse Schneider-Lengyel fuhr nicht nur Motorrad, sie ruderte auch morgens 4 Uhr auf den Bannwaldsee, fischte irgendwelche Hechte und Barsche und beschenkte die Literaten, die scheinbar alle auf den Fußboden nächtigen mussten, mit einem ersten, durchaus anspruchsvollen Frühstück.

Nur Hans Werner Richter schlief vermeintlich auf einer bettförmigen Kiste. Und dieses Privileg des Herbergsvaters, des Strippenziehers, des Oberleutnants des literarischen Fähnleins Fieselschweif zelebrierte Richter konsequent bis 1967. Er blieb zwanzig Jahre die Autorität, die auch drei spätere Literatur-Nobelpreisträger nicht anzweifelten (Böll, Grass, Handke).

Wenn ein Buch mit „Es geht ein Gespenst um im deutschen Literaturbetrieb – das Gepenst der Gruppe 47“ anhebt, entwickelt sich bei mir ein zwingendes Bedürfnis, das Druckerzeugnis zu schließen. Diese Frontalverwendungen von bis zum Brechreiz abgelaberten Zitaten oder Zitatdetails nerven mich penetrant. Doch habe ich dieses Buch nicht geschlossen und das war eine weise Entscheidung, denn Böttiger bietet in seinen Buch mit den unspektakulärem Titel „Die Gruppe 47“ (s.o) einen wesentlichen Beitrag zum literaturhistorischen Verständnis der westdeutschen Nachkriegszeit. (Aber auch einige Schriftsteller der ostdeutschen DDR konnten sich über die zwei Jahrzehnte in die Anwesenheitsliste eintragen – z.B. Jentsch, Bobrowski, Kunert, Schneider…)

Neben Kenntnisreichtum, einem wohldosierten Faktenangebot und inhaltlicher Präzision gelingt es Helmut Böttiger, die Dinge auch sprachlich souverän zusammenzufügen, heute mitnichten eine Normalität.

Ich habe die erste Hälfte des Buches bewältigt (453 Seiten) und freue mich auf die Resthälfte.

Allgemeine, eher oberflächliche Kenntnisse um die Wirkung dieser Schriftsteller – Dichter – Kritiker – Treffen hatte ich natürlich schon seit Jahren in meinem Gedächtnis gespeichert. Allerdings besonders die spektakulären Akzente wie z.B. Hans Werner Richters unsäglicher Vergleich von Paul Celans Vortragsweise mit der Terror-Rhetorik von Goebbels oder die Auseinandersetzungen um die Emigranten und die Emigrantenliteratur, die auch Thomas Mann trafen, den viele als „anti-goethische“ Erscheinung nur als Gast in Deutschland dulden wollten. Die Verleihung der Frankfurter Goethe-Medaille 1949 an Thomas Mann wurde in durchaus breiten Kreisen der Öffentlichkeit eher argwöhnisch bis missbilligend zur Kenntnis genommen, auch von Mitgliedern der Gruppe 47.

Böttiger bereicherte aber z.B. tiefschürfend meine Kenntnise über die kulturellen, literaturpolitischen Zusammenhänge der unmittelbaren Nachkriegszeit, über die zunächst weiterhin ständige Präsenz nationalistischer und antisemitischer Traditionen, dekoriert mit einer grauenvoll mystischen Metapher-Literatur, auch über die wachsende Bedeutung professioneller Literaturkritiker wie Walter Jens und Joachim Kaiser, später auch Hans Mayer, Karasek und Reich Ranicki. Und das Buch gibt mir vertiefte Einblicke in beginnende Abhängigkeiten zwischen Literatur und Medien, in frühe Netzwerke und in die Abläufe innerhalb rasant steigender Auflagen von Druckerzeugnissen literarischen und literaturtheoretischen Zuschnitts.

Aus meiner kleinen Celan-Sammlung.

Aber auch die Aufnahme von Ingeborg Bachmann und Paul Celan (s.o.) in die Gruppe 47 (beide ab 1952) und deren Konflikte untereinander, die man auch bei hochgradig toleranter Gutlaunigkeit nicht als harmonisch beseelt und reibungsfrei bezeichnen kann, werden z.B. auf den ersten zweihundert Seiten vielschichtig dokumentiert und beschrieben.

Als Elemente der Auflockerung bietet er dann auch humoristische Einschübe an.

So kam Ilse Aichinger, seit 1951 bei der Truppe, etwas verwirrt zu Hans Werner Richter und lamentierte über einen nackten Mann in ihrem Bett. Richter betrat das Zimmer und bestaunte die Lagerstätte, unter deren Decke sich tatsächlich ein Körper abzuzeichnen schien. Er lüftete das Stofftuch und sah……….Heinrich Böll, naturlich nackt. Er erklärte dann alternativ diesen Vorfall als Zimmer-Irrtum oder als Scherz. Übelgenommen wurden diese Späßchen aber scheinbar nie. Als mögliches Hindernis gegen die Verleihung des Nobel-Preises für Literatur an Böll wurde diese Aktion auch nicht eingesetzt.

Klagenfurter Straßenstillleben mit einem legeren Jürgen vor dem Detail des ORF-Gebäudekomplexes, in dem jährlich der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben wird

Ingeborg Bachmann, der höchste deutschsprachige Literaturpreis trägt immer noch ihren Namen, schrieb am Beginn der 50er Jahre Texte für eine Radiofamilie und lässt einem Vater den folgenden pädagogischen Vorschlag formulieren: „Überdies bitte ich Dich auch, gelegentlich ein wachsames Auge auf unsere plötzlich heranwachsende Tochter zu haben. Ihr Gesicht bekommt immer mehr diesen seltsamen Ausdruck sentimentaler Verblödung.“

Nicht unbedingt der gängige Sound I. Bachmanns.

In Waischenfeld sagte man sich dann 1967 Lebewohl, die Gruppe 47 wurde in die literaturhistorischen Lehrbücher aufgenommen. Zwischen Bannwaldsee und dem Ort in Oberfranken traf man sich über zwanzig Jahre z.B. auch in Berlin, Würzburg, am Ammersee, aber auch in Italien, Schweden und den USA.

Einige, ungeordnet aufgeführte Teilnehmer dieser Begegnungen, ohne die oben Genannten: S. Lenz, K. Mickel, A. Kluge, W. Koeppen, M. Walser, E. Rohwolt, H. Heißenbüttel, H.M. Enzensberger, H.W. Henze, U. Johnson, A. Andersch, L. Rinser…….

In Bansin gibt es einen Erinnerungsort für Hans Werner Richter, der auf Usedom geboren wurde. Beim ersten Blick auf das ehemalige Feuerwehrhaus dachte ich zunächst an Hans Richter, der Ober-Rüpel in der „Feuerzangenbowle“.

Und in Klütz wurde ein ehemaliger Getreidespeicher zum „Literaturhaus Uwe Johnson“ umgebaut, mit einem Museum von höchster architektonischer, museumstechnischer und pädagogischer Qualität. Man munkelt, Klütz wäre identisch mit Jerichow, einem Ort , den Johnson literarisch beschreibt. Nicht verwechseln mit Jerichow in Sachsen-Anhalt, mit einer ehemaligen Prämonstratenser-Anlage (Chorherrenstift), deren Besuch man sich zumindest einmal im Leben nicht entziehen sollte.

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Januar 22, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Eine kurze Nachlese zu zwei Geburtstagen (75). Teil I: Patti Smith

Mein erster Tonträger mit Musik von Patti Smith

Erster Geburtstag

Patti Smith (75. Geburtstag. am 30. Dezember 2021)

Ich vermute, dass „Gloria“ mich zu meinem ersten akustischen Kontakt mit Patti Smith führte (Mitte der 70er Jahre), ein Titel, der auf ihrer ersten Scheibe „Horses“ untergebracht wurde (s.o.). Van Morrison schrieb den Song am Beginn der 60er Jahre und spielte ihn mit seiner Gruppe „Them“ wenig später ein. Ein herausragendes Stück Musikgeschichte.

Einschub Die markant unhöflich angelegte Grundhaltung Bob Dylans bei entsprechender Misslaunigkeit während seiner Konzerte ist Allgemeinwissen. Bei den zwei von mir besuchten Konzerten benahm er sich eher mittelmäßig misslaunig bis gutlaunig.

Doch Van Morrison überbietet diesen Sound auffällig locker. Er verzichtete während eines Auftritts vor einigen Jahren in Weimar auf eine Zugabe, ließ sich nach seinem Gekrähe nicht mehr blicken, das Licht wurde gelöscht und wir tasteten uns, mich eingeschlossen, in die thüringischen Dunkelheit und zum Ausgang.

Aber mich stören derartige Abläufe wenig, im Zentrum steht die Qualität des Konzerts und der Auftritt von Morrison war an diesem Tag formidabel. Ich brauche keine Akteure, die von Bühnen „Ich liebe Euch alle“ oder „XY ist die schönste Stadt der Welt“ herab labern. Singen sollen sie, auf ihre Gitarren dreschen, das Schlagzeug drangsalieren und ihre Saxophone verbiegen. Und „Astral Weeks“ von Van Morrison ordne ich nach wie in die absolute Edel-Kategorie meines musikalischen Begehrens ein. Ende des Einschubs

Patti Smith agierte dagegen nur am Rande des Zentrums meines musikalischen Intresses. Als Bewohner im Chateau d´ If Deutschlands gab es eben kaum Möglichkeiten, deren Musik zur Kenntnis zu nehmen. Denn auch im westlichen Teil würdigte man sie nur zurückhaltend als wesentliche Erscheinung der aktuellen Pop-Kultur. Und ihr einziger kommerzieller Hit „Because tonight“, der auch befriedigend oft in westdeutschen Radiosendern aufgelegt wurde, widerspiegelt eher rudimentär die inhaltlichen und musikalischen Tendenzen ihrer Musik. Bezeichnend mein langjähriger Irrtum, „Because tonight“ wäre ein Beitrag von Linda Ronstadt.

Doch irgendwie gelang es dann auch in der DDR, oft auf obskuren Nebenpfaden, sich Informationen z.B. über Patti Smith zu besorgen, aus zerfledderten, viel gelesenen Büchern und Zeitschriften oder aus Rundfunk u. Fernsehkanälen westeuropäischen Zuschnitts. Ich erfuhr von ihrer eindringlichen Zuneigung zu Rimbaud, neben Verlaine und Baudelaire auch für mich einer der Titanen meiner spätpubertären Lyrik-Euphorie. Ich las oder hörte von ihrer Verbindung zu Robert Mapplethorpe und später zu Blue Öyster Cult (sie vertonten auch Lyrik von Patti Smith) und zu einem Mitglied der ehemaligen MC5. Ich hörte in Dresdner Blues-Kellern Mitte der 70er Jahre Tonträger mit der Musik von den Ramones und von Television, Pioniere des amerikanischen Punk-Rocks, der Gitarrist von Television zupfte dann später in der Band von Patti Smith. Dennoch verharrte sie immer nur an der Peripherie meiner zentralen Kulturbedürfnisse.

Doch genügte mein Interesse immerhin dafür, in Jena ein Billett für das Konzert mit Patti Smith zu erwerben. Am ersten Regentag des Jahres 2002, dem noch einige folgten und auch Mitteldeutschland unter Wasser setzten.

Es ergaben sich dann etwa neunzig Minuten einer musikalischen Darbietung, während der sich Schirme in mein Blickfeld schoben, zumindest innerhalb einiger Zeitphasen, Wasser von Nebenschirmen auf meinen Brustkorb oder auf die Wirbelsäure tropfte und das gesamte, von Menschen bevölkerte Areal nach feuchter, oft säuerlich riechender Kleidung dünstete. Und Patti Smith schien sich für eine Engagement, für eine Leidenschaft auf eher mittlerer Ebene begnügen zu wollen.

Aber immerhin blieb sie, trotz des nicht übermäßig hinreißenden Konzerts, zumindest am Rande des inneren Bezirkes meiner Aufmerksamkeit festgezurrt.

Und dann die Widergabe eines Konzerts mit Patti Smith vor enigen Tagen auf ARTE von 2005 aus Montreux. Ich werde nun die Zurrung lösen und den inneren Kern meiner kulturellen Zuneigungen öffnen.

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Januar 11, 2022 Posted by | Leipzig | 1 Kommentar