Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, ein winterlicher Nachschlag, Bischofsgrün vor vierzehn Tagen, ein Held auf dem Skilift, gehärteter Straßenkaugummi, Beatclub in sozialistischen Wohnstuben, Rory Gallagher, Patty Smith, Johnny Winter in Essen, ein Turm der Asen, polternde Skischuhe und Hausmachersülze, Humboldt I u. II, die Lieblingstochter vom Alten Fritz und Richard Wagner in einer fleuristischen Großmarkthalle

Bischofsgrün, am 9. März 2012

Ich bevorzuge eher einen Tag in diesem Paradies als eine dreiwöchige Sommer-Röstung meiner Nüsse an sommerlichen Stränden des Mittelmeers.

Jürgen, der Tapfere fotografiert aus dem Skilift, trotz seiner akrophobischen Tendenzen (links). Schon die wechselnde Höhe bei dem Tritt auf einen gehärteten Straßenkaugummi treibt mir den Höhenschweiß auf meine kühne Stirn.

Blick vom Skilift auf den Ochsenkopf mit Fernsehturm (links, unten). Ich verneigte mich dankbar vor dieser Metallstange, schenkte sie uns doch mit ihren Wellen das „Westfernsehen“, trieb sie unseren jungen Puls in sozialistischen Wohnstuben zu beängstigenden Entgleisungen.
Denn der Beatclub (1965-72) unterstützte uns zuverlässig bei der Zelebrierung pubertärer Exzesse.

Als z.B.Jimi Hendrix bei „Hey, Joe“ seine Gitarre mit den Zähnen malträtierte, versuchten wir, die Zimmerwände zu erklimmenen, bei Who, Small Faces, Traffic, Beach Boys, Spencer Davis Group, Love Sculptures, Move schütteten wir uns mit den billigsten Mehrfruchtwein die Rüben zu.
Dann folgten bald die Rockpalast-Konzerte aus der Grugahalle in Essen.
Die Auftritte von Rory Gallagher, Mink de Ville, Little Feat, Patty Smith, Johnny Winter, Who und Grateful Dead versuchte ich dann mit Mikrofon auf mein Spulentonband zu bannen. Eine außergewöhnliche Anstrengung und eine außerordentlich lausige Qualität.
Heute unerträglich, doch damals war ich der Held und jeder wollte mein Freund sein, um für die Musik eingeladen zu werden.
Außerdem erhielt ich schon die ersten Schallplatten, nach meiner Omas Westbesuchen (Zappa).

Details des Asenturms auf dem Ochsenkopf, auf über eintausend Höhenmetern (rechts und unten)Die Asen sind ja die Gesamtheit des nördlichen Göttergeschlechts. Und ähnlich der Existenz von zwei Eddas gibt es zwei Göttergeschlechter.
Asen sind die eine Truppe, die Bezeichnung der anderen Brigade ist mir momentan nicht gegenwärtig.
Hier oben gibt es eine Gaststätte mit der ewigen Akustik polternder Ski-Schuhe und eine vorzügliche Hausmachersülze.

Jedenfalls lümmelte Goethe, sicher mit irgendeiner Braut, im Sommer 1785 hier oben herum. Meine humanistische Bildung legt Goethes Alter nach kurzer Zahlenqual auf fast sechsunddreißig Jahre fest.

Auch der alte Enzyklopädist und Dauer-Tourist Humbold, Alexander von drehte im Fichtelgebirge seine Kreise, doch nicht zum Vergnügungsjogging. Die Tafel weist ihn als Oberbergmeister dieser Baumansammlung aus, am Ende des 18. Jahrhunders
Das gemeinschaftliche Anliegen, auch mir einen Erinnerungsstein zu stiften, wird geprüft, vermute ich zumindest.


Bayreuth, wenige Kilometer von Bischofsgrün. Grabstätte von Markgräfin Friederike Sophie Wilhelmine, Lieblingstochter vom Alten Fritz (Friedrich II.) in der Schlosskirche Unsere Liebe Frau (links).Die Kirche wurde Ostern 1758 eingeweiht.
Bald danach wechselte die Hofhaltung nach Ansbach, damit Funktionslosigkeit der Hofkirche. Ab 1797 röchelte sie als Garnisionskirche vor sich hin, 1806 als Militärmagazin. 1813 Wechsel von ehemals evangelischer zur katholischen Pfarrkirche.

Innenraum, höfisch-festlich-hell. Blick zum Hochaltar mit Traubenmadonna (links).
Empore mit dorischen Holzsäulen. Stuckverzierungen am Spiegelgewölbe. Stuckdecke hinten, unter der Taube des Heiligen Geistes allerlei Gerätschaft, Kreuz für Glaube, Ring für Liebe, Anker für Hoffnung.

Bayreuth. Grabstätte Richard Wagners (rechts).

Etwas keimig, doch sicherlich die Winterverkeimung. Es wird Zeit für die nächsten Festspiele, dann mutiert das Grab zu einer fleuristischen Großmarkthalle (Juli/August).

Bayreuth,
Villa Wahnfried, mittelnah (rechts)
.

Geplante Rekonstruktion bis 2013. Gut informierte Kreise sprechen von 2014, vielleicht auch noch etwas später. Man flüstert von finanziellen Gründen.
Vielleicht könnten diese Energy-Drink-Heinis von Red Bull, nachdem sie in Leipzig ein sündhaft blödes Fußball-Stadion für eine elftklassige Hungertruppe gebaut haben und diesen Haufen wohlwollend unterstützen, auch ein paar Taler für Wagners Wohnhaus bereitstellen.
Denn alle Leipziger können sagen: Wir sind Wagner!
Doch das bleibt nur Illusion.

Vor einigen Jahren setzte ich mich in irgendeine Ecke der Wahnfried-Räume, während Musik aus Walküre und Siegried zwischen den Wänden hallte. Minuten der Faszination, aber auch einer unbestimmten, lähmenden Furcht.

Villa Wahnfried, auffällig nah (rechts)

Bayreuth
Jean-Paul-Museum (unten)

Ehemaliges Wohnhaus von Chamberlain, dieser furchtbar intellektuelle Antisemit (1909-27).
Jean Paul lebte von 1804 – 1825 in Bayreuth, geb.in Wunsiedel, etwa fünfzig Kilometer entfernt.
Meine Belesenheit in Pauls OEvre ist erschreckend lückenhaft.
Titan und Flegeljahre, vielleich noch einige theoretische Schriften, danach habe ich meine Paul-Bände scheinbar für ewig versiegelt.
Hesse, Rolland, Zweig, Th. Mann, später Sartre, Beckett, Dostojewski, Rimbaud, Trakl…… standen mir näher als der alte Kram.
Vielleicht genehmige ich mir als Rentner wieder etwas Jean Paul.
Vielleicht auch nicht.
Eigentlich wollte ich zunächst Proust helfen, seine verlorene Zeit zu finden, über sieben Bände.
Vielleicht kommt auch alles ganz anders.

März 21, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die Leipziger Buchmesse, Rekordbottiche, Else Buschheuer, Ute Freudenberg, Quantität-Hybris, die Ebenen der Mittelmäßigkeit, garstige Genügsamkeit, Druck auf Nebenhoden, Wolfgang Hilbig und Oskar Pastior und die Vettern vierten Grades von Charles Ives

Buchmesse Leipzig 2012

Leipziger Zeitung vom 14. März 2012 (oben und unten)

Ich will doch einfach nur gute Literatur hören und lesen.
Noch keine Zeile wurde dargeboten und man wird schon mit neuen Zahlen aus dem Rekord-Bottich zugeschlammt.
Die Zahl der Verlage, der Länder, der Lesungen, der Autoren, der Leseorte, der Bücher.

Gönnt mir doch einfach nur eine kleine, stille Lesung, ohne Rekorde, Zahlen und dusslige Kommentare.

Auf der Titelseite (oben) im Einleitungsabschnitt gibt es Informationen über die Länderbeteiligung, über die Zahl der Einzelstände und Bücher. Dann am Beginn des Haupttextes die Zahl der Autoren und Leseorte.
Die Bildunterschrift auf der Kulturseite dieser Zeitungsausgabe (unten) bietet dann wiederum die Zahl der Verlage und Länder, die Autorenbeteiligung und die Zahl der Bücher.
Der Einleitungstext auf der Kulturseite überrascht uns endlich mit der Anzahl der teilnehmenden Verlage, der Länder und der Bücheranzahl.
Im unteren Teil wird unser Wissen über die Zahl der Autoren, Veranstaltungen und Leseorte gefestigt.
Im Service-Bereich des Artikels erhalten wir dann nochmals komprimierte Hinweise auf die Zahlen der teilnehmenden Verlage, der Länderanzahl, den Umfang der lesenden Autoren und der Leseorte.
Und dann fallen wir gemeinsam in ein Belästigungskoma.

Sind wir denn wirlich alle so bekloppt, diesen Zahlensud ertragen zu müssen.
Ich will doch einfach nur gute Literatur hören.

Vielleicht sollte endlich wieder einmal die Qualität der angebotenen Literatur, der Lesungen beachtet werden, weniger diese nervende Quantität-Hybris zelebrieren. Denn der Anspruch der Veranstaltung bewegt sich in die unteren Ebenen der Mittelmäßigkeit, doch wird sie von schlechten Journalisten und garstig genügsamen Kritikern grundlos gerühmt.

Die Leipziger Zeitung (oben) gibt dann einen kleinen Enblick in ihre Autoren-Arena. Lesen werden u.a. Wladimir Kaminer, Andrea Maria Schenkel, Thomas Brussig, Ute Freudenberg, Else Buschheuer.
Mir graut. Kaminer mit seinen Erweiterungen der Russendisko, in der schon Rubljow getanzt hat. Oder Else Buschheuer und ihre fast boshaft banale Prosa. Vielleicht liest und singt Ute Freudenberg ihre grauenhaften Schlagertexte, die den Status von Körperverletzunge erfüllen und Brussig langweilt mit populär-verkaufsorientierten Wenderlebnissen.
Ich sehne mich ohnehin nicht nach literarischen Lesungen. Mir ist die Atmosphäre weitgehend unangenehm.
Diese wissende, verständnissvolle, tiefschürfend blickende Herumhängerei geht mir ziemlich gebündelt auf die Nebenhoden.
Ich erfreute mich an Lesungen mit Wolfgang Hilbig, Oskar Pastior, Uwe Kolbe, Thomas Kunst, das genügt zunächst.
Bei Thomas Bernhard hätte ich gern und bei J.M. Coetzee würde ich mich allerdings wieder mit gedankenreicher Mimik auf einem Besucherstuhl platzieren.
Sicherlich werden auch herausragende Ereignisse stattfinden.
Doch bekenne ich, dass ich die Leipziger Buchmesse meiden werde.

Ich korrigiere. Am Sonnabend vergnüge ich mich still bei einer Stunde
mit Klavier-Musik von Charles Ives und Henry Cowell. Ralph Roger Glöckler, der Portugal-Euphoriker, liest dazu aus „Mr. Ives und die Vettern vierten Grades“.
Danach höre ich in meinem heimatlichen Musiksalon Ives` dritte Sinfonie.

Nachtrag aus der heutigen Zeitung (15. März)

Buchmesse 2012

Auf der Titelseite werden wir mit den Zahlen der ausstellenden Verlage, Länder, Leseorte und Veranstaltungen verwöhnt.

Auf der Kulturseite gibt es bei der Texteinführung die Angaben über die Teilnehmerzahl der Länder, Autoren, Leseorte, ausgestellte Bücher.
Und ich werde jetzt mit den Literaturfreunden meiner Umgebung eine lustige Wissensstunde organisieren, z.B.

Wieviel Länder nehmen an der Buchmesse teil?

Wieviel Leseorte werden angeboten?

Wieviel Verlage stellen aus?

Bei auffälliger Unkenntnis wird als Strafmaßnahme ein intensives Studium der Leipziger Volkszeitung vollzogen!

juergenhennekunstkritik.wordpress.com

juergen-henne-leipzig@web.de

März 15, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Nashorn, Giraffe & Co, Massenfickerei mit Maulwürfen, das Martyrium eines Hornträgers, die Verschiebung der Schamgrenze, ein Giraffenhals unter dem Porree-Messer, ein Aspik-Kopf im Tierrrachen, Schamlippen auf dem Zirkus-Boden und Norbert Nashorn im Marilyn-Schritt

Wie mich derartige Bilder doch entsetzen! Diese wundervollen Tiere in einem speckigen Zirkuszelt als Belustigung für einfältige Menschen mit ihren bekloppten, pausenlos Popcorn zermalmenden Kindern.

In Leipzig verschmutzt das Werbeplakat eines deutschen Zirkus` das lebensfreundliche Fluidum. Diese Zirkusheinis haben tatsächlich die Stirn, Nashorn und Giraffe in ihrer Hütte anzubieten.
Das Nashorn erleidet ohnehin ein unbeschreibliches Martyrium.
Einfach Horn ab, damit irgendwelche vertrocknete Wichte die Hoffnung erhalten, mit dem Pulver ihre keimig-blassen Sperma-Röhren wenigstens auf Halbmast halten zu können.
Ich habe im südafrikanischen Krüger-Park u.a. Nashörner und Giraffen erlebt. Wie weit muss die Schamgrenze verschoben werden, um sich dieser Tiere zu bemächtigen, dussliger Spielchen wegen, für schrille Lachsalven debiler Zeitgenossen.
Was macht man im Zirkus mit einem Nashorn? Vielleicht eine öffentliche Abschlachtung des Horns. Jeder darf dann naschen und danach folgt im Zelt die große Massenfickerei mit Maulwürfen und Eidechsen.
Und was macht man mit einer Giraffe? Vielleicht einfach den Hals kürzen. Wie bei der Zubereitung von Porree.
Hunde gieren nach Beschäftigung, sollen sie im Zirkus 250x nach einem dussligen Stöckchen springen.
Aber Giraffen , Nashörner, Elefanten, Raubkatzen.
Warum schmatzt so ein Löwe nicht einmal seine Backen zusammen, wenn ein „Dompteur“ seinen feisten Aspik-Kopf in den Tierrachen stopft ? Vielleicht gäbe es dann endlich ein Ende.

Doch die kollektive Abneigung gegen derartige anachronistische Spielchen scheint sich zu entwickeln.
Gegen Trapez, Trampolin ist ja nichts zu sagen, die Jongleure können sich gegenseitig getrost die brennenden Fackeln in den Hintern schieben. Und meinetwegen dürfen auch die alternden Zirkusschönheiten ihre Schamlippen auf dem Zeltboden schleifen lassen und dabei Tango tanzen. Kann alles recht interessant sein. Doch lasst die Tiere in Afrika, Australien…..
Ich gelobe, dass ich niemals, selbst bei galoppierender Senilität, ein Zirkustor durchschreiten werde, weder mit Enkeln noch mit Urenkeln.

Nachtrag
Es wäre sicher nicht unkomisch, wenn sich das Nashorn, Bild oben, mit seinem Monumental-Pickel bei der Zirkus-Marilyn so richtig kraftvoll im Schritt einhaken würde. Heiterkeit würde bis zur Kuppel wogen. Und dann noch etwas Popcorn für Norbert Nashorn und die Heiterkeit wäre umfassend.

März 6, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die unregelmäßige Serie: „Kunst, die keine Sau kennt, außer Jürgen“ und Raoul Dufy, eine versunkene Kathedrale, ein Händedruck mit Pissarro, Urmonolith Cezanne, Plakate in Trouvilles, Problem-Masturbationen, unverdauter Kartoffelsalat, des Stahlarbeiters Schweißtropfen, Debussy, Tübke, Heisig, Rettichernten und Mahlers Selbsteinschätzung

Roaul Dufy

1. Orchesterszene

2. Musikstillleben

Klavier mit klarer Empfehlung für den Pianisten.
Hinweise auf Bruckner oder Beethoven hätten mich auf diesem luftig hingehauchten Bild auch irritiert.
Eine unaufdringliche Einspielung der beiden „Préludes pour piano“ von Debussy während eines Aufenthalts in einer kleinen Pariser Galerie mit Bildern Dufys könnte ich mir gut vorstellen. Es gäbe sicher unerfreulichere Verrichtungen

Als pubertierenden Pickelbruno hatte mich besonders „La cathédrale engloutie“ aus Teil II fasziniert („Die versunkene Kathedrale“), schön laut und pathetisch.
Doch muss es natürlich nicht nur Debussys Klimpermusik sein.
Auch die erstaunliche Oper „Pelléas et Mélisande“ oder die zehnminütige Perle „Prélude à l´après-midi d´un faune“ hinterlassen bei mir ein gerüttelt Maß an Fassungslosigkeit.

Neben der Hinwendung zur musikalischen Thematik zelebrierte Dufy das Wasser. Es tröpfelt, perlt, fließt, wogt vor sich hin, in zahlreichen Bildern. Die Verwunderung darüber hält sich in Grenzen. Denn er wurde 1877 in Le Havre geboren.
Nach einer akademisch geprägten Overtüre unternahm er zunächst Versuche, seine Bilder in frühimpressionistischer Manier zu füllen und empfand eine enge Bindung an Eugène Boudin. Dadurch begann auch seine Zusammenarbeit mit Othon Friesz. Er gönnte sich den Einfluss von v. Gogh, später von Matisse, durfte Pissarro die Hand schütteln und neigte zu kubistischen Elementen, natürlich mit Cezanne als Richtschnur und künstlerischen Urmonolith.
1906 stellte er gemeinsam mit den Fauves im legendären „Salon d´Automne“ aus

3. Straßenszene

Von etwas klaustrophobischer Grundanlage. Ich vermute Feierlichkeiten zum 14. Juli. Ausreichend Quadratmeter der Trikolore sind ja vorhanden. Eine frühe Verwandschaft mit Manguin ist nicht zu übersehen.

4. Les affiches à Trouvilles

Mich deucht, dass Dufy und Manguin am Beginn des 20. Jahrhunderts einige Malaktionen in dieser Stadt der unteren Normandie ableisteten.Vielleicht auch ein Irrtum. Denn Bilder von Manguin aus diesen Episoden sind mir nicht bekannt.
Doch Dufys „Les affiches…..“ ist natürlich überragend.
Allein dieser alberne Stuhl im Vordergrund ist es wert, separat umrahmt zu werden.
Einfach nur ein paar mehr oder weniger unansehnliche Papierlappen an den Plakatwänden, etwas „Altstadt“, Passanten ohne aufregende Performance. Doch wie dieses alltägliche „Nichts“ strukturiert wird, diese Perspektive, der Glanz der erdigen Farben, individuelle Tristess, polterndes Selbstbwusstein, mondäne Zwischentöne und die launige Koketterie mit betont weiblichen Körperteilen bei Bewohnern und Gästen zeugen von handwerklicher Souverenität und einer sensibel-empfindsamen Beobachtungskultur.

Stillleben

Dufy wird nicht selten bezichtigt, der Problemlosigkeit zu huldigen, einer Kunst des Glücks, der Schönheit, auch der Oberflächlichkeit.
Meinetwegen.
Die Huldigung von Glück und Schönheit in einer Zeit zweier Weltkriege ist kein übles Ansinnen, vielleicht etwas naiv.
Doch Dufy verweigert sich der Verbitterung.
Und ich bin es leid, dieser Interpretationswut zu folgen, dieser Problem-Masturbation, die mir zu unsäglichen DDR-Zeiten regelmäßig den unverdauten Kartoffelsalat in die Mundhöhle hochdrückte.
„Was will der Künstler uns damit sagen“ lautete die standartisierte Infantilfrage und als Extrakt der Antwort musste ein markiges „Klassenkampf“ abgebrüllt werden. Nur der Inhalt zählte, die Form war zweitrangig.
Schon am Beginn der fünfziger Jahre wälzte die DDR-Propaganda ihren Formalismus-Sud über die westliche Kunst der Ungegenständlichkeit.
Der akribisch gemalte Schweißtropfen auf der Arbeiterstirn des sozialistischen Stahlarbeiters galt als höchste Aufgabe der Malerei, möglichst noch mit dem Geruch von Arbeiterschweiß abgerundet.
Mir wird schwindlig.
Ich schrieb darüber in der „Art position“ einen herausragenden Text (Heft 2, 1990), erhältlich z.B. im documenta Archiv Kassel.

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Schon Vasari sprach von „disegno“ (Zeichnung), der vortrefflichsten Art, sich künstlerisch zu äußern, gegen die malerische Dominanz. Im 19.Jahrh. bildeten z.B. Courbet und Ingres die beiden Pole.
Diese Kollisionen wurden bis in die Gegenwart getragen. Die Leipziger Schule kann dafür Tübke und Heisig anbieten.
Mich interessiert diese Fehde wie Rettich-Ernten in Südbolivien.
Die Qualität ist der Champion.
Dufy hatte nun die Gabe, graphisch-zeichnerische und malerische Strukturen in einem Bild in höchster Güte zu vereinen, ein wesentlicher Beitrag für die Kunst des 20. Jahrh.
Er treibt die Aquarellmalerei bis zum ästhetischen Exzess, unterlegt feinsinnige Strukturen, notwendiges, unaufdringliches Dekor und gliedernde Balken mit wohltemperierten Kolorit und dessen edlen Abstufungen.

Raoul Dufy malte und zeichnete Straßenszenen, Strände, Rennplätze, Festumzüge, Segelregatten, er illustrierte Apollinaire und Mallarmé, versorgte Theater mit Bühnenbildern, bemalte Keramiken, erdachte Stoffmuster, bastelte an Kartons für Tapiserien, arbeitete gemeinsam mit Braque, erhielt eine Sonderbelobigung von Cocteau, fabrizierte das monumentale Wandbild für die Pariser Weltausstellung (1937) mit den zerstörerischen Maßen von 60m x 10m und stieg vor fast neunundfünfzig Jahren in die Kiste, sicher mit Notenblättern Debussys hinter den klammen Ohren.

Dufys Erbe wird kunsthistorisch im Fauvismus vermischt. Mich macht diese Grüppchenzuordnung immer etwas unzufrieden.
Denn zwischen den großartigen (frühen) Derain, dem grausigen (späteren) Derain und Dufy liegen z.B.Universen.
In der Hierarchie dieser Formation wird ihm bei Gutlaunigkeit eine mittlere Position zugebilligt.
Gustav Mahler wird die unzweideutige Selbsteinschätzung zugewie-
sen : „Meine Zeit wird kommen“, oder so ähnlich. Er behielt recht.
Für Raoul Dufy stehen die Zeichen eher misslich.
Etwas erhöhte Aufmerksamkeit und eine Tendenz zur Ignoranzminderung sollte sich aber entwickeln.

März 3, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die unregelmäßige Serie: „Geschichten, die das Leben und der Jürgen schreiben“ und ЖОРЖ РУО und „Schorsch Ruo“ und „Georges Rouault“und Lehrer Rasputin, nackte Frettchen auf dem Stuhl, Genialität in der dritten Liga, Bach und Cash, das Ei in der Nase, meine Urgroßmutter und Hildegard von Bingen, der Tod Prokofjews und Stalins, eine Liebe zu Orangen, Lou Reed an der Elbe , Onibaba und „Walk on the Wild Side“

1. Geschichte

Mein Blog wurde mit der Eingabe gefunden:

ЖОРЖ РУО

Ich war zunächst etwas irritiert. Meine letzten Russischkenntnisse vermittelte mir Rasputin und die Schriftzeichen nach Kai Kyrill aus Saloniki kann ich nur noch schwer zu einer Silbe ordnen. Trotz achtjähriger Sprachbildung.
Doch bald entwickelte sich eine Buchstabenreihe, die sich klanglich zu einem deutschen „Schorsch Ruo“ formte.
Der Weg zum französischen Georges Rouault war dann überschaubar.

Von ЖОРЖ РУО also zu Georges Rouault

Ich war entzückt

Dazu Rouaults Dirne. Selten wurde derart eindringlich und mitfühlend seelischer Schmerz gemalt. Ohne Manierismen und Mätzchen, ohne Mitleidskatalysatoren, einfach nur mit Strichen und „Klecksen“. Das Gesicht im Spiegel bleibt unvergesslich.
(s.a. Text vom 4. Februar 2011).
Die Bezeichnung „Genialität“ plagt sich ja unter einer lächerlich-abstrusen Inflation. Genial ist schon der Fußballer der dritten Regionalliga, der einen Strafstoß nur knapp neben den Pfosten setzt. Oder der Regisseur, welcher in einem Theaterstück zwei nackte Frettchen auf einen Stuhl platziert (ähnlich der Begriff „Held“).
Doch bei den besten Arbeiten Rouaults scheint das Vokabular begrenzt und man muss auf „Genialität“ zurückgreifen.
Doch kennt ihn leider kein Schwein.

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2. Geschichte

Johnny Cash

Innerhalb der Bekanntgabe von kulturellen Ereignissen verwies man in einem sächsischen Radiosender auf Bach und bald auf Johnny Cash (80.Geburtstag) und erinnerte am außerordentlich wichtig und wissend formulierten Höhepunkt der Rede auf die engen Bezüge zwischen Bach und Cash.
Ich blieb etwas stutzig. Augenscheinliche oder hörbare Annäherungen zwischen den beiden erschienen mir nicht plausibel.
Ich spürte Spannung in mir.
Ich musste dann zur Kenntnis nehmen, dass die Radioverkünderin die beiderseitige Prägung durch das Christentum scheinbar als außerordentliche musikhistorische Neubewertung gelten ließ.

Zwei Komponisten und Musiker mit ähnlich christlicher Bindung. Ein bislang einmaliger Vorgang. Ich rutschte vom Stuhl. So hinreißend können mir am Samstag, während ich mein Frühstücksei hinunterwürgte, Sensationen mitgeteilt werden.
Vor Begeisterung kam mir das Ei wieder aus der Nase, unzerkaut.

Gemeinsame Vorfahren aus Costa Rica, drei Nasenlöcher oder ein auffälliger Fetichismus für den weiblichen Ellenbogen würde ich als verbindende Elemente akzeptieren.
Doch Cash aus Arkansas und der Thüringer Passions-Heini, beider Existenz auf christlichen Fundamenten ……….und das als erwähnenswerte Information……erscheint mir etwas dürftig.
Meiner Kenntniserweiterung durch diesen Beitrag wurden beleidigend enge Grenzen gesteckt.
Allerdings ertappe ich mich jetzt, religiöse Zusammenhänge zwischen meiner Urgroßmutter und Hildegard von Bingen zu suchen. Oder zwischen meinem Freund Philipp und Bonifatius.

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3. Geschichte

Der junge Prokofjew, angenehm gelangweilt.

Prokofjew soll fünfzig Minuten vor Stalin gestorben sein, am 5.März 1953. Schostakowitsch überlebte diesen Teufel um zweiundzwanzig Jahre.
Bei Prokofjews Oevre sind natürlich die Sinfonien zentral gelagert, ich bevorzuge 2+3.
Doch bevor man in die Kiste steigt, sollten keinesfalls die Klavierkonzerte überhört werden.
Mein erster Trommelfellkontakt mit Prokofjew ergab sich vor gefühlten tausend Jahren, um die Zeit, als Heinrich II, der alte Ottone, sich über den Jordan machte.
Im Leipziger Gewandhaus rumpelte damals die „Skythische Suite“ durch den Konzertsaal. Ich habe sie als recht heroisch, mit ausreichend Pathos in Erinnerung.
Doch seit vierzig Jahren nicht mehr gehört.
Dafür liegt aber aber mindestens 1x im Jahr „Die Liebe zu den drei Orangen“ als musikalischer Mittelpunkt auf meinem CD-Platten-Teller.
Meinen Drang, wenigstens Teile der hochwertigen Musik von Schostakowitsch anzupreisen, unterbinde ich. Es wäre eine Tagesbeschäftigung.
Schon der Gedanke an die Streichquartette (15) treibt mich sabbernd die Wände nach oben. Und die Opern, die Sinfonien….

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Musik der Woche

Lou Reed: „The Blue Mask“, 1982

Beim gemeinen Musikverbraucher endet die Kenntnis über Reeds Musik geläufig bei „Walk on the Wild Side“.
Ich empfehle eine Erweiterung. „Blue Mask“ eignet sich dazu vorzüglich.
Ich hörte und sah Lou Reed vor einigen Jahren im Berliner Schillertheater. Dieser Eindruck animiert mich, mir im Frühsommer den Weg an die sächsischen Windungen der Elbe zu gönnen. Dresden und Lou Reed. Das passt.

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Film der Woche

„Onibaba“ (1964) von Kaneto Shindo

Während eines Krieges im mittelalterlichen Japan metzeln Frauen versprengte Soldaten, um zu überleben.
Eine Verkettung von Poesie, grafischer Schönheit, Leichtigkeit, aber auch unkontrollierter Panik mit barbarischer Brutalität und nach oben offenen Grenzen des Leides, physischer und psychischer Prägung.
Wie eine menschliche Erscheinung, vor Angst von Sinnen, durch ein wogendes Gras-Schilf-Feld hastet, ist unvergleichlich und aktiviert Gänsehaut.

März 1, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar