Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und Hermann Stenner im Kunsthaus Apolda

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911, Öl auf Leinwand

Walter Jacob aus Thüringen, geboren 1893, dem Westfalen Peter August Böckstiegel, geboren 1889 in Arrode, wurden Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts im Altenburger Lindenau-Museum Ausstellungen gewidmet, die das Spektrum expressionistischer Kunst durch eher bislang unbekanntere Namen erweitern sollte. Zumindest mein Spektrum wurde erfreulicherweise erweitert, denn Jacob und Böckstiegel, die bislang in meinem kunsthistorischem Wissen in der hinteren Unsichtbarkeit agierten, haben sich inzwischen im vorderen Mittelfeld angesiedelt.

Die Dresdner „Brücke“ und Münchens „Blauer Reiter“ gelten ja nun als Ultravertreter expressionistischer Kunst in Deutschland, auch in Europa. Doch stehe ich diesen Einordnungen eher abhold gegenüber, weil ich nicht selten überfordert bin und im Grunde Expressionismus sich doch mehr oder weniger durch die Kunstgeschichte der vergangenen einhundertfünfzig Jahre durch Museen und Galerien gedröhnt hat.

Natürlich die „Brücke“, natürlich der „Blaue Reiter“, aber auch van Gogh, Gauguin oder Hodler, natürlich auch mein hochverehrter Schiele und mein gleichfalls hochverehrter Beckmann, auch mein eher weniger verehrter und eher überschätzter Munch, aber auch der großartige Ensor, auch Kokoschka und natürlich die französische Fauves-Truppe (Matisse, Vlaminck, Dufy….), mein hochgeschätzter Rouault, der unterschätzte Rohlfs, die Malerinnen und Maler aus Worpswede,……usw. haben sich, mitunter gemischt durch andere Stilmittel oder auch temporär angelegt, mit expressionistischen Gesten auf Leinwänden und mit graphischen Kostbarkeiten geräuschvoll geäußert,

Mit Kastanien bestandener Kanal, 1909, Öl auf Leinwand

Und nun Hermann Stenner aus Bielefeld im Kunsthaus Apolda, der mit dreiundzwanzig Jahren und im vierten Monat des Ersten Weltkriegs an der polnischen Ostfront fiel. Es ist müßig, über seine mögliche Entwicklung zu spekulieren, auch bei Macke und Marc, bei Trakl und Stramm, gleichfalls in diesem Krieg getötet, wären Spekulationen törricht. Ebenso bei Georg Heym, der 1912 mit vierundzwanzig Jahren in der Havel ersoff und bei dem unvergleichlichen Egon Schiele, der 1918 achtundzwanzigjährig sein Leben der spanischen Grippe übergeben musste. Wir müssen nehmen, was überliefert wurde und erhalten blieb.

Expressionismus im engeren Sinn (vorrangig die Dresdner „Brücke“) wird seit Jahrzehnten im mitteldeutschen Kulturrevier mit ständigen und temporären Ausstellungen doch recht üppig angeboten (Chemnitz, Dresden, Halle, Zwickau, Altenburg, Apolda…). Und ich kann nicht verhehlen, dass sich zuweilen bei mir eine stille Übersättigung entwickelte.

Und doch war es eine weise Entscheidung, den Besuch im Kunsthaus Apolda zu vollziehen.

Hermann Stenner lernte und studierte an der Bielefelder Kunstgewerbeschule, in München und Dachau, 1911 wurde er in die Stuttgarter Malklasse von Adolf Hölzel aufgenommen, sein wichtigster Lehrer. Er pflegte Kontakte zu Schlemmer und Itten, wesentliche Mitwirkende am späteren Bauhaus, auch zu Willi Baumeister.

Stenner an seine Eltern: „Ich halte von all diesen Akademiekram nicht allzuviel“

Und genau diese Genervtheit an Naturalismus, Neoromantik, Neoklassizismus, aber auch Impressionismus, also akademisch erwünschte Darstellungsformen dieser Jahre wird sich bald in Stenners Kunst widerspiegeln.

Nach impressionistischen Anfängen ignorierte er zunehmend deren naturtreuen Realismus. Er begann die Linie zu zelebrieren und der farblichen Übereinstimmung zu realen Objekten zu misstrauen. Der Farbe gönnte er ihren Eigenwert, ungemischt und auf die Fläche geschliert. Er vertraute nun in hohem Maße den Kunst-Konzepten Kandinskys („Über das Geistige in der Kunst“) und der Malkultur Jawlenskys (Bild unten). Stenner reduzierte perspektivische Konstruktionen und zelebrierte die expressive Flächigkeit. Er war auf dem Weg, traditionelle Ordnungsprinzipien zu verlassen, verarbeitete psychoanalytische Erkenntnisse und Einblicke in die individuellen Gefühlssituationen der künstlerischen Subjekte und näherte sich emsig der Avantgarde des ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts.

Stenner befand sich auf dem Weg, noch nicht am Ziel. Denn am 5. Dezember 1914 unweit von Ilow besiegte ihn der Krieg.

Willi Baumeister, selbst ein verdienstvolles Mitglied der deutschen Künstler-Kolonne des vergangenen Jahrhunderts sagte über Hermann Stenner: „Er wäre einer der besten Maler Deutschlands geworden“.

Ich neige dazu, dieser Ansicht beizupflichten.

Grüne Frau mit gelbem Hut, 1913, Öl auf Pappe, auf Spanplatte aufgezogen. Sicherlich nicht das gelungenste Bild der Ausstellung, zeigt aber Stenners Orientierung an Jawlensky

Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912, Öl auf grober Sackleinwand

Heiliger Sebastian, 1911/12, Öl auf Leinwand

Jahrmarkt am Kesselbrink in Bielefeld, 1912, Öl auf Leinwand

Viadukt bei Monschau, 1912, Öl auf Leinwand

Theaterszene, 1913, Aquarell, Feder, Tusche, Goldfarben auf Zeichenpapier

Selbstbildnis mit hohem Hut und Zigarette, 1910, Öl auf Pappe

Alpenveilchen II, 1912/13, Öl auf Pappe

Ich bin zwar nicht der große Chagall-Euphoriker, doch nach dem Bielefelder Stenner werden die Wände im Kunsthaus mit Bildern des Witebskers Chagall behangen. Die Stadt ist aktuell ein Teil von Belarus, doch hoffe ich auf eine Realisierung der Ausstellung und hoffe ebenfalls, das die aktuelle Infantilisierung der Kultur durch infantile Kulturpolitiker endlich durch ein kompetentes Verständnis für globale Kulturwerte ersetzt wird.

Kunsthaus Apolda Avantgarde, bis 3. September, Dienstag – Sonntag 10-17 Uhr

Musik der Woche

Rolling Stones: „Exil on Main St“, bei z.B. „Tumbling Dice“ gehe ich auch noch mit über 70 zu Boden. Hab Dank, du 80-jähriger.

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Juli 27, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar