Juergen Henne Kunstkritik

Christoph Schlingensief………..und……….Jürgen Henne

Ich trauere um Christoph Schlingensief.

Seit Jahren verfolgte ich konzentriert und dankbar seine Arbeit. Doch werde ich mich nicht um eine Denkschrift bemühen.

Ich werde nicht in diesen Kanon der Huldigungsphrasen einstimmen, in dem seit gestern auch Mitmenschen grölen, die ihn vor überschaubaren Zeiten noch in ein Arbeitslager schicken wollten, die sich bei dessen Anblick und der Kenntnisnahme seiner theoretischen und praktischen „Provokationen“ nach einer Kettensäge sehnten, sich zu Kotzorgien versammelten und jetzt widerlich dieses Beileids-Event ankurbeln. Weil es schick ist und die eigene zwergige Courage es verbietet, einen Standpunkt verlässlich zu verteidigen.

Mir graut vor einer Kondolenzhysterie aus allen Medien-Fanfaren. Ich wünsche, dass diese opportunistischen Tagediebe, die sich bedeutungsmäßig nicht einmal Schlingensiefs Schnürsenkeln genähert hätten, in diesen Tagen ihre labernden und ethisch zerlumpten Mäuler schließen.

Möge Christoph Schlingensief zwischen Himmel und Hölle pendeln, leiden und lieben, lästern und trösten, irgendwo dort oben und irgendwo dort unten sein Theater inszenieren. So würde es ihm gefallen und wir werden himmlisch und höllisch applaudieren.

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August 21, 2010 Posted by | Kunst, Leipzig, Presse, Verstreutes | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und Christoph Dieckmann, Tom Petty & the Heartbreakers, Santana und Steve Winwood im Intershop, Begrüßungsgeld, Canned Heat, Eric Burdon, Blind Faith, Würfelhusten zwischen Berlin und Leipzig, Stuhlkissen und Theo Teuer im Supermarkt

Christoph Dieckmann erinnert an eine Ausstellung in Sonneberg 2006, welche Artikel zeigte, die der grenzüberschreitende DDR-Staatsangehörige von seinem Begrüßungsgeld (Einhundert Westmark) vor über zwanzig Jahren erwarb („Die Zeit“, 12. August 2010). Er beklagt die Monotonie der Übersicht, fast nur Radiorecorder.
Auch bei meinem Kaufverhalten müsste Dieckmann klagen, nur Schallplatten, dieses „fast“ kann getrost gestrichen werden.
Denn ich hatte bei „2001“ in der Westberliner Kantstraße vierzehn Scheiben erstanden.

Acht von vierzehn „Begrüßungsgeldscheiben“. Darunter einige Ausgaben „Greatest Hits“ z.B. Yardbirds mit Eric Clapton, Jeff Beck und Jimmy Page, von Chris Farlowe, Vanilla Fudge, Canned Heat und Otis Redding.
„Greatest Hits“ ist nicht mein bevorzugtes Tonträgerformat. Doch glaubte man damals immer noch an eine plötzliche Grenzschließung und man nahm alles, Hauptsache es war billig.
Außerdem aber auch noch „Heroes“ von David Bowie, Eric Burdons „The Black-Man`s Burdon und die unvergleichliche und einzige Platte der Blind Faith.

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Die Rückreise im Zug, etwa acht Stunden von Berlin nach Leipzig, wurde dann zu einer Fahrt mit apokalyptischem Zuschnitt. Ich kämpfte um meine Platten inmitten einer Herde, die sich während dieser gesamten Tortur mit westlichem Bier und Whiskey zuschüttete. Ich gönnte Ihnen ihre Bewußtseinserweiterung, der ich ja grundsätzlich auch nicht abhold gegenüberstehe.
Doch sie bescheinigten mir, ein üppiges Ding an der Waffel zu haben, weil ich mir einen derartigen Musik-Mist von dem Tropfen Westgeld gekauft hatte.
Doch erduldete ich wacker diese Zwischenfälle, auch einzelne Akteure mit Würfelhusten und Auswürfen von alkoholisiertem und halbverdautem Nahrungsbrei, auch die unbeschreibliche Enge in den Waggons, wogegen die sprichwörtlichen Büchsen-Sardinen sich in endlosen Arealen ergehen können, wuchtete meine kostbare Fracht in die heimatliche Wohnung und legte mit feuchten Augen die erste Scheibe auf meinen DDR-Schallplattenspieler.
Ich begann, meine Erinnerung sollte mich nicht trügen, mit „On The Road Again“ von Canned Heat, eine meiner Hymnen am Ende der sechziger Jahre, kurz und grandios. „Canned Heat“ umkreisen scheinbar auch heute noch mit Konzerten die Erde. Aber eben ohne Bob Hite und Alan Wilson. Denn Sänger und Mundharmonika liegen schon lange unter der Erde. Das entspräche etwa einem Konzert der Rolling Stones ohne Mick Jagger und Keith Richards. Sicher auch ordentliche Musik, aber trotzdem……

Dann beschreibt Dieckmann in seiner Glosse die Gründe für sein missliches Verhältnis zu Elektromärkten und empfiehlt „Mojo“, die neue CD von Tom Petty &the Heartbreakers.
Und wieder wurde ich von Erinnerungen bewegt. Ich dachte an die „Intershops“, in denen Fabrikate des Hassfavoriten Bundesrepublik Deutschland angeboten wurden, natürlich gegen Westgeld.
Mich interessierten aber weder Eduscho-Brühe noch Ernte-23-Dampf, mein begieriger Blick suchte halbrechts oben die unscheinbare Musikabteilung.
Und mit schmerzhaft zusammengerafften Westmünzen erwarb ich u.a. Scheiben der Stones, von Santana, Spencer-Davis-Group mit dem göttlichen Steve Winwood und eben auch „You`re Gonna Get It“ von Tom Petty & the Heartbreakers.

„You`re Gonna Get It“ (1978). Mittig, Petty vor über dreißig Jahren

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Tom Petty war noch nie ein große Derwisch einer musikalischen Avantgarde, der mir unablässig eine Gänsehaut über den Körper treibt. Doch zelebriert er nun seit fünfunddreißig Jahren eine solide Rockmusik von durchaus gehobenem Anspruch und erreicht ein recht breites Publikum durch gefällige Titel wie „I Won`t Back Down“, „Free Fallin“, „Learnig To Fly“ oder „Into The Great Wide Open“.

Jedenfalls suchte ich gestern in irgendeinem Baumarkt, dessen Namen ich grundsätzlich vergesse, zwei Handvoll Bügel, ein Stuhlkissen und Fenstergaze, um meine Wespenphobie positiv zu kanalisieren Der Kauf von Bügeln, Stuhlkissen, Fenstergaze – so spannend kann der Vormittag eines Samstags sein.
Und außerdem las ich in dieser Bude den überdimensional ausgeführten Hinweis: „Teuer hat bei uns Hausverbot“ (oder „Bei uns hat Teuer Hausverbot“) und meine sprachästhetischen Gene rotierten. Vielleicht meinen sie aber auch Theo Teuer, der ein Stuhlkissen gestohlen hat.

Nebenan kaufte ich dann „Mojo“ von Tom Petty & the Heartbreakers und werde bald mit neuer Fenstergaze, neuem Stuhlkissen und neuen Bügeln, die meine mondäne Kleidung tragen, die Richtigkeit von Christoph Dieckmanns Meinung über Pettys neue CD akustisch überprüfen.

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August 15, 2010 Posted by | Leipzig, Musik, Neben Leipzig, Verstreutes | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Richard Strauss und Salome, surrealistischer Quark, Beardsley, Alex Ross, Musik des 20.Jahrhunderts und ein knapp verpasster Pulitzer-Preis

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Meine nächtliche Lieblings-Bettlektüre für die nächste Tage

Ich tendiere ja mit erhöhter Anmaßung zu dem Glauben, die Musik des 20. Jahrhunderts recht sorgfältig überschauen und beurteilen zu können.
Dennoch erwarb ich jetzt den Band „The Rest Is Noise“ des New Yorker Musikkritikers Alex Ross, von meiner Wochenzeitschrift „Die Zeit“ weitgehend geschmäht, sonst euphorisch begrüßt und für den Pulitzer-Preis nominiert, allerdings ohne krönendes Ergebnis.
Ich werde diesen siebenhundert Seiten in den nächsten Tagen den Status „Lieblings-Bettlektüre“ verleihen.
Das Buch beginnt mit einer kleinen Geschichte um „Salome“ von Richard Strauss, Uraufführung im Dezember 1905 in der Dresdner Hofoper, sechs Monate später in Graz aufgeführt. In die Steiermark reisten damals für dieses Ereignis u.a. Puccini, der bei „Turandot“ immerhin die neuen Lichter erahnt hatte, außerdem natürlich Mahler mit Alma, Schönberg, von Zemlinsky, Alban Berg, die Witwe von Johann Strauß (Sohn)……..
Warum wurde ich nicht siebzig Jahre früher geboren? Ich glaube, ich hätte mich an diesem Abend wohlgefühlt.
Vielleicht aber auch nicht, zumindest nicht in der Erinnerung. Denn man vermutet, dass der siebzehnjährige Hitler durch seine Anwesenheit diese einmalige Oper erniedrigte.
Aber ich werde dennoch nicht von „Salome“ lassen, auch nicht von „Elektra“, nicht von „Ariadne auf Naxos“ und der „Frau ohne Schatten“, musikalische Wunderwerke von Strauss aus den ersten zwanzig Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Aubrey Beardsley. Illustration zu Oscar Wildes „Salome“

Beardsley war einer der Giganten meiner pubertären Zeit. Das hat sich natürlich alles etwas relativiert.

Ähnlich wie meine Skepsis um die Kunst von Dali, Delvaux, Magritte, Tanguy und den anderen surrealistischen Quark. Diese etwas kalkulierte, gezirkelte und „abgehobene“ Arglist.

Max Ernst möchte ich betont von meiner momentanen Distanz zu dieser Kunst ausschließen.
Auch der eher ungegenständlich werkelnde Teil dieses Vereins bereitet mir noch heute ein gerüttelt Maß an Freude (Arp, Miro, Matta, Masson,Gorky)

Anders die „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ mit ihren egozentrischen Gelärme (Hausner, Fuchs). Für mich nur noch schwer zu ertragen. Vor vierzig Jahren ein Orgasmus-Katalysator.

Doch Beardsleys Blätter sind natürlich immer noch ein ästhetischer Genuss.

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August 4, 2010 Posted by | Kunst, Leipzig, Literatur, Musik | Hinterlasse einen Kommentar