Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und vier Wochen im Land der Belgier und Napoleons Urteil über die Bewohner des Landes der Belgier: “ Die Belgier sind das stärkste aller Völker.“

Brügge, Flandern, spätgotisches Stadhuis (Rathaus)

Erbaut letztes Viertel des 14. Jahrhunderts bis erstes Viertel des 15.Jahrhunderts.

Leuven, Flandern, noch ein spätgotisches Stadhuis (Rathaus)

Erbaut Mitte des 15. Jahrhunderts.

Oudenaarde, Flandern, und noch ein spätgotisches Stadhuis (Rathaus),

Erbaut Mitte des 16 Jahrhunderts, mit Renaissance-Elementen. Oudenaarde ist der Geburtsort Adriaen Brouwers, der Spezialist für gemalte Kneipenkloppereien und für erfrischend hässliche Gesichter.

Schiffshebewerk im Hintergrund

Dieser Blick endet im Hintergrund mitnichten an einem spätgotischen Stadhuis (Rathaus) in Flandern. Der Blick endet bei einem der vier grandiosen Schiffshebewerke bei La Louvière in der wallonischen Region Belgiens. Aber dennoch gibt es eine Übereinstimmung zwischen diesen technischen Elite-Leistungen in der Wallonie mit dem spätgotischen Stadhuis (Rathaus) in Brügge (Flandern). Die vier Schiffshebewerke wurden, wie die historische Altstadt Brügges, einschlißlich des Rathauses, in den Welterbe-Ordner der UNESCO eingeheftet (Schiffshebewerke 1998, Brügge 2000)

Erbaut zwischen 1882 und 1917 mussten diese Wasserkunst – Apparate ihre Schiffe fast 70 Meter hochstemmen, um die Wasserscheide zwischen zwischen Schelde und Maas zu bewältigen. Seit 2002 übernimmt nun eine moderne Anlage diesen Job. Doch waren die Bewohner des Areals zwischen Luxemburg, Niederlande, Frankreich und Deutschlands so weise und droschen diese kolossalen Herrlichkeiten nicht zu einer Müllhalde zusammen.

Schon Napoleon sagte: „Die Belgier sind das stärkste aller Völker.“ Sicher auch im Kampf um die Anerkennung ihres Kulturerbes. Die Dresdner hatten sich als weniger stark erwiesen.

Schiffshebewerk im Vordergrund

Doch das Land der Belgier ist nicht nur ein Gelände der spätgotischen Rathäuser und der Schiffshebewerke, aber gleichwohl der Beginenhöfe, sechsundzwanzig sind noch erhalten, dreizehn als unverzichtbar für die globale Kulturgeschichte ausgewiesen. Und das Land der Belfriede, freistehende oder mit den Rathäusern verbundene Glockentürme.

Und das Land des Triumphes der altniederländischen Malerei in zahlreichen Museen, u.a. Jan v. Eyck, Rogier van der Weyden, Hans Memling, Dieric Bouts, Hugo van der Goes…., s.u., aber auch der surrealistischen Kunst von René Magritte und Paul Delvaux, beginnend mit den künstlerischen Ausgangskoordinaten Rops, Khnopff und Ensor und natürlich das Kunst-Terrain von Art Deco und Jugendstil, z.B. die Arbeiten Victor Hortas, das Palais Stocklet, der Hauptbahnhof Antwerpens……

Leuven, Sint Pieterskerk, „Heiliges Abendmahl“ (Mitteltafel) von Dieric Bouts, 60er Jahre des 15.Jahrhunderts.

Vermutlich das erste perspektivisch konstruierte Bild der altniederländischen Malerei. Eine eher distanzierte Darstellung mit gedrosseltem Pathos und auffällig symetrischer Flächenfüllung.

Brügge, Groeninge Museum, „Madonna des Kanonikers van der Paele“ von Jan v. Eyck, 1436.

Etwa sechzig Kilometer entfernt von Brügge in der Genter Kathedrale St. Bavo wird v. Eycks Hauptwerk zur Besichtigung angeboten, eben der „Genter Altar“. Der Maler, verblichen um 1441 herum in Brügge, um dessen Bruders Beitrag (Hubert) zu den Bildern Jans bis zum nächsten Urknall keine Einigkeit erreicht werden dürfte, setzte tiefschürfende Akzente an der Schwelle von Spätgotik und Frührenaissance, also von Mittelalter und Neuzeit. Er überwand die absolute Abhängigkeit des dogmatisch typisierenden Bezugs auf Natur und Menschenbild und stand am Beginn der künstlerischen Wiedergabe individuell geprägter Zusammenhänge.

Wobei die chronologische Einordnung der Zeitalter sich doch eher etwas schwammig anbietet, entsprechend des historischen Blickwinkels. Die Abfacklung von Jan Hus (1415), Gutenbergs Buchdruck-Aktion (1450), der Indien-Irrtum von Kolumbus (1492) oder die Anwesenheit Luthers und der Krach mit meuternden Bauern während des ersten Viertels des 16.Jahrhunderts sind nur eine Auswahl der beschriebenen Ereignisse, die in der entsprechenden Literatur die Ablösung des Mittelalters durch die Neuzeit begleiteten.

Und altniederländische Maleri gibt es nicht nur in belgischen Museen, Bilder v. Eycks eher weniger, sondern auch in Deutschland, z.B. in Berlin („Madonna in der Kirche“, u.a.), Dresden („Marien-Altar“) und selbst im Leipziger Bildermuseum, zumindest aus dem Umkreis v. Eycks.

Kortrijk, Beginenhof, Haus der Grootjuffrouw (Beginenälteste)

Der Status der Beginen erschließt sich mir nur schwerfällig. Anders als die Nonnen eines Klosters legten sie kein Gelübde ab, auch kein Armutsgelübde. Sie zelebrierten ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbstbestimmung, konnten ihre Truppe verlassen, ihr Vermögen mehren, heiraten und eher gelockerte Sitten pflegen. Zumindest ist Flandern die Ausgangslandschaft für diese Bewegung religiöser Frauen, die 1216 Papst Innozenz III. anerkannt hatte und deren Entstehung z.B. mit Flanderns Frauenüberschuss nach den Kreuzzügen erklärt wird. Die letzte Begine verschied mit 92 Jahren vor einem Jahrzehnt in Kortrijk. Ansehnliche Beginenhöfe gibt es z.B. noch in Brügge, Gent, Hoogstraaten, Mechelen…

Nachdem van Gogh während eines Studiums für die Tätigkeit eines Laienpredigers in Brüssel scheinbar wegen anhaltender Fläzigkeit entlassen wurde, wohnte er eben als Laienprediger von August 1879 bis Oktober 1880 in diesem Haus in Cuesmes, heute Stadtteil von Mons in der Borinage, damals ein zentrales Steinkohleabbaugebiet Europas.

Lessines (Wallonien)

Sitzender Hinweis auf den Geburtsort René Magrittes, mit Hutkrempe nach oben, einer der einflussreichsten Surrealisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Sint-Idesbald, Museum Paul Delvaux, Hinweis auf den zweiten Surrealisten belgischer Herkunft.

Vor über fünfzig Jahren wäre ich vor diesem Bild von Paul Delvaux in eine Begeisterungsohnmacht abgesunken (wie z.B. auch bei Dali, Magritte, Tanguy, Lam, Bellmer…). Natürlich wurde diese Kunst in der DDR-Einöde ignoriert und Bücher gab es schon gar nicht. Doch nicht selten gelang es dann doch irgendwo bei irgendjemandem in diesen begehrten Druckerzeugnissen zu blättern. Die Euphorie hat sich relativiert. Doch Lessines und das Delvaux-Museum lagen auf dem Weg unserer Belgien-Tour und ich war freudig bereit, meine Jugenderinnerungen zu aktivieren.

Diksmuide, Teil des einzig erhaltenen Schützengrabens des 1. Weltkriegs in Belgien

Am linken Ufer des Yser. Der Dodengang, in unmittelbarer Nähe der damaligen deutschen Linien am anderen Ufer der Yser.

Das heutige Areal Belgiens wurde nicht selten ausgiebig von Kriegen, von Schlachten heimgesucht, oft mit wichtigem, auch entscheidendem Zuschnitt. In Waterloo z.B. platzierten Wellington und Blücher den abschließenden Klatscher auf Bonapartes zweispitzigen Napoleon-Hut, wodurch Europa neu geformt wurde.

Aber auch der erste Weltkrieg, z.B. die Flandernschlacht, verheerte diese Region unbarmherzig, Ypern gab es danach im Grunde nicht mehr. Aber auch Diksmuide wurde bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Durch die Öffnung der Yser-Schleusen und der anschließenden Flutung der Region reduzierte man die Bewegungsmöglichkeiten der deutschen Linien erheblich, zerstörte aber gleichfalls weite Teile der eigenen Heimat.

Nur wenige Kilometer nordöstlich vom Dodengang wird auf dem Friedhof in Vladslo an über fünfundzwanzigtausend deutsche Soldaten erinnert. Käthe Kollwitz, deren Sohn Peter 1914 mit 18 Jahren an der belgischen Front fiel, schuf dafür die Bildhauerei „Trauernde Eltern“

Nieuwpoort, Rathaus

Rehabilitation der Hexen, die in dieser Stadt im 17.Jahrhundert den Scheiterhaufen besteigen mussten. Etwas bizzar, extravagant aber unbedingt liebenswert

Das Land der Belgier ist aktuell aber auch ein Land mit erhöhtem Lärmpegel und einer unüberschaubaren Reihung von Kränen und entsprechenden Baustellen, von Autos, von Staus und oft geheimnisvollen Verkehrsregelungen. Eine Fläche von hoher Bevölkerungsdichte, 380 Einwohner pro Quadratkilometer, Deutschland im Vergleich 240 Einwohner. In der Mongolei sieht man sich kaum 2x im Leben, nur zwei Mongolen auf einem Quadr.-Kilometer.

Belgien, eben ein Land von 2023, mit bemerkenswerter Kultur, bemerkenswerter Geschichte, mit allen Herrlichkeiten und Hässlichkeiten, welche die Zivilisation so anbietet. Und das auf einer Flächenausdehnung ähnlich Brandenburgs, inmitten Europas. Darauf kann man vier Wochen herausragend überleben.

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Juni 30, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die Völklinger Hütte

Völklingen, Saarland

Ein Eisenwerk, ein Hüttenwerk, eine Hütte, eine industrielle Anlage für metallurgische Verfahren….., die Bezeichnung kann variabel eingesetzt werden. Auf alle Fälle stand über einhundert Jahre (1873/1986) die Gewinnung von Eisen aus Erz im Zentrum dieser hochkomplexen Abläufe (Verhüttung).

Eine Fabrik der industriellen Revolution in Europa, die neben der Zeche Zollverein in Essen, dem Rammelsberger Erzbergwerk, dem Fagus-Werk in Alfeld (Schuhleistenherstellung), gebaut u.a. von Walter Gropius, den Bergbauzeugnissen im Erzgebirge (z.B. Frohnauer Hammer) u.a. als deutscher Beitrag in die UNESCO-Welterbekiste für Industrie und Technik eingeordnet wurde (1994). Über ein Jahrhundert hatte sie wesentlichen Einfluss auf die europäische Eisengewinnung.

Auf dem Rückweg nach einer mehrwöchigen Tour durch das Land der Belgier, schon seit dreißig Jahren geplant, kämpften wir uns auf Seniorenbeinen 4-5 Stunden durch dieses metallische Labyrinth.

Begriffe wie Hochofen, Paradies, Gebläsehalle, Möllerhalle, Sinteranlage, Erzschrägaufzug, Kokerei, Winderhitzer, Gichtbühne, Trockengasreinigung…….kann man sich vielleicht als Einzelablauf erdenken. Doch für mich als Zeitgenosse mit dem technischen Verständnis eines frühen Mammut-Jägers erschließen sich mir die eher größeren oder eher feinsinnigen Abläufe im Zusammemhang mit dieser Architektur nur fragmentarisch. Aber ich bin auf einem guten Weg.

Mich faszinierte diese Anlage ähnlich vehement wie z.B. die hochgotische Kathedrale in Amiens und das New Yorker Chrysler Building, auch wie Ankor What in Kambodscha und der Registan-Platz in Samarkand, aber auch wie die norwegischen Stabkirchen (Urnes, Borgund….) und der mexikanische Dschungelkomplex der Maya in Palenque.

Im Angesicht dieser steinernen, hölzernen und metallischen Wundertüten, einschließlich der Völklinger Hütte, wurden und werden meine kindlichen Reaktionen auf „sensationelle“ Ansichten, Begegnungen und Abläufe aktiviert, die sich in weit geöffneten Augen und Mündern darstellt. Meine selige Großmutter pflegte mit „Mach den Mund zu, die Milchzähne werden sauer“ zu reagieren. Doch eher saure Milchzähne als diese Wundertüten zu übersehen.

Und ein paar Bilder von dem saarländischen Objekt meine Begehrens (oben und unten).

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Juni 14, 2023 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar