Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, Daniela Schadt und zwei Lagermahlzeiten in Ravensbrück

Verdichteter Einblick in die unterschiedlichen Ausformungen der Mahlzeitgestaltung während der Gedenkfeiern zur siebzigsten Wiederkehr der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück.

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Gedeck für die „Prominenz“ u.a. für Daniela Schadt, Gaucks Lebensgefährtin

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Gedeck für ehemalige Insassen des Konzentrationslagers oder deren Angehörige. Das Lebensalter wird sich wohl nur noch selten unter der Vollendung des neunten Jahrzehnts angeben lassen.

Ich vermute einmal, dass sich die ehemaligen Häftlinge bei diesem Viehtrog (Bild oben) mit Gänsehaut an die Abläufe in Ravensbrück vor mehr als siebzig Jahren erinnerten.
Hier dinierte die Lagerleitung, dort fraßen die Gefangenen.

Daniela Schadt und die Ihrigen dürften an saftig-zarten Steaks herumgegiert haben, unterlegt mit feinen Prinzessböhnchen, vorbereitet durch ein delikates Rahmsüppchen.

Die neunzigjährigen Gäste mussten sich mit Plastebesteck irgendwelchen aufgetauten Einback von einer ekligen Bäckerei-Kette zwischen die neunzigjährigen Zähne schieben, angeboten auf hässlichen Servietten.

Der Inhalt der Plasteschüssel im Vordergrund zeugt von einer aufgewärmten Suppe (ohne Rahm) mit den Resten aus der benachbarten Kaserne. Sie wurde scheinbar nur angenippt und zur Seite geschoben, vermutlich zum Kotzen.
Der braune Becher, sicher für die Getränkeablagerung oder als Abfallbottich genutzt (vielleicht auch für beides gleichzeitig), steht in der Regel vor öffentlichen Klos an drittklassigen Tankstellen als Behälter zur materiellen Danksagung der Benutzer.
Warum sollte man auch neunzigjährige Mägen mit Steaks drangsalieren? Sie wurden ja vor über siebzig Jahren an dünne Suppen gewöhnt.
Außerdem kann sich dann Daniela Schadt einen zweiten saftigen Fleischhaufen einführen und eine Kelle feine Prinzessböhnchen nachladen.

Sicher sind das alles nur Äußerlichkeiten, Dekorationen in emotional erbarmungslosen Stunden.
Doch steht diese unerträgliche Anmaßung für Gleichgültigkeit und eine kollektiv-routinierte Heuchelei und Bigotterie.
Und wer ist eigentlich Daniela Schadt, dass sie sich einen derartigen Affront, diese Schmähung erlauben darf?

Als möglicher Teilnehmer an dieser Veranstaltung hätte ich mich mit aufgetauten Ekel-Einback und aufgewärmter Suppe abgefüllt und anschließend meinen halbverdauten Mageninhalt auf das dritte saftige Steak von Daniela Schadt erbrochen. Vielleicht wären mir dabei noch ein paar Spritzer für die Tischnachbarn gelungen.

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Teller für die „prominenten“ Gäste

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Schüssel für Opfer und Angehörige, zu deren Respekt und Wertschätzung diese Veranstaltung erdacht wurde




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April 27, 2015 Posted by | Geschichte, Leipzig, Neben Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die begehrte, doch unregelmäßig bearbeitete Serie: Jürgen Henne und die Pein am täglichen Journalismus

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Torf in Irland
Als Maßeinheit für das Torf-Volumen in schlesischen und niedersächsischen Abbaugebieten wurde die Bezeichnung „Schock“ verwendet.
Es gibt aber auch den Elektroschock und einen Schock im medizinisch-diagnostischen Bereich. Rudolf Schock war ein begehrter Sänger, besonders als Wolfgang-Amadeus-Tenor, die Dynastie Schockenmöhle beherrschte den dämlichen Reitsport über Jahrtausende und die Niederländer „Shocking Blue“ fiedelten während der 70er Jahre recht ordentliche Musik („Venus“).

Und dann gibt es noch den journalistisch-volkstümlich bearbeiteten „Schock“, als verschärfte Version die „Schockstarre.“

Deutschland in Schockstarre nach dem Alpenabsturz, Deutschland in Schockstarre nach Enkes Suizid, eine überregionale Schockstarre nach Klopps Rücktrittserklärung…..Deutschland in einer geschockten Dauerstarre
Jeder Suizid ist eine Tragödie, das Unheil über den Bergen muss bei Menschen, die mit einem Mindestmaß an Emphatie gesegnet sind, zu einem tiefen Mitgefühl führen, zu Gedankenketten, die sich existenziellen Ebenen nähern.
Doch ich entscheide, wenn ich willig für eine Schockstarre bin. Ich lass mir meine Schockstarre nicht von dümmlichen Medienangestellten aufdrängen.

Nach einem Unentschieden der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der EM-Qualifikation wurde ein Text mit „Deutschland in Schockstarre“ eingeleitet, so ausufernd wie das Logo über Hollywood.
Mich interessierte dieses Unentschieden weniger als ein Bericht über die monatliche Fingerhut-Produktion auf dem südlichen Teil von Barbados.
Zelebrierte Massenemotionen sind mir hochgradig zuwider.

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Mittelmeer

Und bei diesem mediterranen Wahnsinn der letzten Tage sind infantile, sich ständig wiederholende Beschreibungen einer kollektiven Schockerstarrung in allen Medien und von deren schockerstarrten Journalisten wenig hilfreich.
Die Befreiung des schockerstarrten Hinterns aus dem schockerstarrten Sessel, verbunden mit einem heißen Schrei, böte sich vielleicht als erste Hilfestellung an.

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„Ziemlich beste Freunde“

Seit einigen Tagen wird in den deutschen Kinos der Film „Das Glück an meiner Seite“ angeboten, mit Hillary Swank, weiblichen Hauptdarstellern und inhaltlich scheinbar dem symphatischen, doch eher mittelmäßigen Streifen „Ziemlich beste Freunde“ entsprechend (männliche Darsteller).
Die einzige Leipziger Tageszeitung wählt als Überschrift für die donnerstägliche Filmkritik natürlich „Ziemlich beste Freundinnen“. Natürlich.
In den Medien tobt ein Fight, die „witzigste“ und törichste Version des Ausgangsmaterials „Ziemlich beste Freunde“ anzubieten.
Da gibt es dann das kernig entwickelte „Ziemlich beste Feinde“ oder „Ziemlich beste Kollegen“ und „Ziemlich beste Schwiegersöhne.“ Nach einer französisch-deutschen Filmproduktion auf Arte haben sich „Ziemlich beste Fernsehfreunde“ gefunden.
„Ziemlich beste Fernsehfreunde“. Urks,….. reicht mir schnell den Übelkübel, sonst wird mir ohne Kübel übel.
Man hat auch kein Erbarmen bei „Ziemlich beste Schachfeinde“ oder bei Piketty und Varoufakis als „Ziemlich beste Feinde.“
Das wird gnadenlos durchgezogen.
Natürlich gibt es auch kreative Glanznummern, die am Original weiterkämpfen.
So sind Merkel und Hollande „Ziemlich beste Freunde“, als gleichfalls „Ziemlich beste Freunde“ agieren China und Deutschland.

In einer Winnetou-Verfilmung sprach Eddi Arent: „Tiere fotografieren, das macht Freude“
Ich kann nur die intellektuell hochwertige Version anbieten: Zeitung lesen, das macht ziemlich beste
Freude.
Und jetzt gehe ich zum Spiegel und überprüfe meine Schockstarre.

Musik des Tages
„Speaks volumes“ von Nico Muhly

Literatur des Tages
Jean Genet kann man immer lesen

Malerei des Tages
Die entspannte Blätterung in einem Band mit italienischen Manieristen, 16.Jahrh. ( El Greco, Fiorentino, Pontormo, Parmigianino)

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April 20, 2015 Posted by | Leipzig, Medien, Presse, Sprache | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und des Deutschlandfunks „Lange Nacht“

Kulturtipp für Abende und Nächte ohne Tatort-Wiederholungen und Darts-Übertragungen

Heute, 18.April 2015, 23.05 – 2 Uhr.
Deutschlandfunk
Die Lange Nacht über Aby Warburg, einer der herausragenden Kunst-u. Kulturtheoretiker des 19./20. Jahrhunderts.

April 18, 2015 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Ostern in der Feldberger Seenlandschaft und Beenz, Thomsdorf, Conow,Triepkendorf,Carwitz, Neustrelitz. Dazu die begehrte Serie: „Jürgen Henne und die Erinnerung des Tages.“

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Wien, Votivkirche, Historismus, Neogotik, Heinrich Ferstel, 1879.

Ich gehöre ja nun keineswegs zur zahlenden Mitgliederschaft des Vereins „Preiset den Historismus des 19. Jahrhunderts“.
Auch die Architektur von Schinkel und Semper aktiviert bei mir nur ein recht reduziertes Wohlwollen.

Doch als wir uns vor fünfundzwanzig Jahren nach grausiger Fahrt im Wiener Franz-Josefs-Bahnhof völlig ermattet und mit sächsischem Körpergeruch aus dem Zug schälten und bald vor Ferstels Votivkirche standen, brummte ich übermüdet, aber dennoch ein launiges „nicht schlecht“.
Kein übler Einstieg für Wien.
Aber auch in meiner Heimatstadt gibt es einige historistische Glanznummern.
Die reformierte Kirche am Goerdeler-Ring (Neo-Renaissance), die neoromanische Taborkirche in Kleinzschocher und als besonderes Monstrum die Michaeliskirche am Nordplatz, hier wurden ganz locker um die sechshundert Jahre Kunstgeschichte abgeladen, Gotik bis Jugendstil.
Und unanfechtbare Höchstwerte im Leipziger Historismus gibt es natürlich für die Peterskirche, unweit des Bayerischen Bahnhofs (Neo-Gotik).

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Feldberger Seenlandschaft

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Neustrelitz, neugotische Schlosskirche

Gebaut von Wilhelm Buttel, Schüler Schinkels sowie Vielbauer und Serienarchitekt in dieser Region.
Einschiffig, kreuzförmig, Backstein.
Zwölf Türme und zwölf Kreise beim Maßwerk der Fensterrose deuten auf die zwölf Apostel. An der Westfassade erstarren die vier Evangelisten mit den entsprechenden Attributen (Adler, Mensch, Stier, Löwe)

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Neustrelitz, Schlosspark

Victoria, Göttin des Sieges und römische Version der griechischen Nike vor österlischer Himmelskulisse.
Von Christian Daniel Rauch, Gigant des deutschen Klassizismus, einer Kunst, die ich zügig und mit geschlossenen Augen passiere.
Von Rauch sind z.B. auch Büsten für Walhalla (Dürer) und das Reiterstandbild Friedrich II. in Berlin (“ Unter den Linden“), Schüler von Schadow (Quadriga auf dem Brandenburger Tor).
Für mich eine Fahrt des Grauens. Wobei ich die künstlerische Qualität nicht in Zweifel stellen möchte !
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Dorfkirchen an der brandenburgisch-mecklenburgischen Grenze

Wir sind vor einigen Jahren für vier Wochen durch die regionale Kunst Burgunds gestromert und haben zahlreiche provinzielle Dorfkirchen von fast unfassbarer Qualität gesehen. Zumeist in einem bemerkenswert denkmalpflegerischen Zustand.
Die Kultur in diesem norddeutschen Areal kann Frankreichs nord-ost-mittiger Region natürlich nicht mit Gleichwertigkeit an die Seite gestellt werden.
Aber trotzdem……

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Dorfkirche in Beenz

Feldsteinbau, um 1270, im 30-jährigen Krieg zerstört, Wiederaufbau Mitte des 18.Jahrhundert, Satteldach. Turm mit Zeltdach
An der Südseite (Bild) sind die beiden Nebeneingänge für Volk und Pfarrer noch schemenhaft sichtbar. Durch den Haupteingang stolzierte nur der Patron (Graf von Arnim zu Boitzenburg).
Dachturm aus dem 18.Jahrh.
Der Krieg machte 1618-48 der gesamten Ortschaft den Garaus. Erst gegen 1700 begann eine erneute Besiedlung

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Dorfkirche Mechow, Westsicht

Um 1350, rechteckiger Feldsteinbau, ohne wesentliche Veränderungen.

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Mechow, Ostsicht, rechteckige Apsis

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Kirchenruine Conow

Anfang 14.Jahrh. Durch mittelalterliche Kloppereien zerstört. Kein Wiederaufbau. Wie damals verbreitet in Schalenbauweise errichtet.
Die Festigkeitsquader sind vorgeblendet, also etwas Trickserei. Hinter den angeblich massigen Steinplatten wurde Feldgeröll verteilt und mit Kalkbrei und Quark angereichert. Garantierte eine solide Beständigkeit.
Im Bild recht gut zu sehen.

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Kirchenruine Conow

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Dorfkirche Thomsdorf
Spätgotischer Altar

Es ist mitnichten immer notwendig nach Gent, Krakau, St.Wolfgang, Kefermark zu fahren, um ansehnliche Retabels oder Altäre zu sehen. Oder nach Colmar, Rothenburg, Creglingen und Dettwang.
Auch in der Provinz kann man sich an derartiger Kunst erfreuen.
Eher provinziell, doch für die Kulturgeschichte gleichfalls wichtig.

Im Mittelschrein thront die Mondsichelmadonna, den Erdentrabant in reduzierten Ausmaßen zu ihren Füßen, links ein Bischof mit Ausrüstung und rechts die hlg. Katharina mit Rad, ihrem Folterwerkzeug, dass sie während der altrömischen Christeverfolgung hinrichtete( Es gibt auch andere Versionen).
In den Seitentafeln dann z.B. Antonius, Elisabeth, Jakobus, Petrus…..also kreuz und quer durch den heiligen Garten.

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Dorfkirche Thomsdorf

Die Lichtverhältnise in der Kirche waren etwas problematisch, deshalb die lausige Qualität. Außerdem besitze ich keine Ablichtungsanlage für 25 000 Euro.

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Carwitz, Blick aus dem Fallada-Haus auf den See und die Bienenhütte

Falladas Bücher stagnierten doch eher an der Peripherie meines literarischen Interesses. Ich dürfte sie alle gelesen haben, doch weitgehend vor mehr als fünfundvierzig Jahren.
Auch „Der Trinker“, damit kann man sich wenigstens identifizieren.
Seine Biografie ist ereignis-technisch aller Ehren wert.
Hier in Carwitz griff er z.B. wieder einmal zur Waffe und traf nur den Tisch, nicht seine Frau.
Im Alter von siebzehn Jahren hatte er sein Ziel schon einmal besser justiert und seinen Freund tödlich verletzt. Er selbst überlebte und begann seine Wanderung durch verschiedene psychiatrische Anstalten.
Zwischen 1933 und 1944 bevorzugte er Carwitz als Wohnort, trieb Landwirtschaft, pflegte das Imkereiwesen und schrieb eine ergiebige Zahl seiner Hauptwerke.

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Fallada-Haus, eine ehemalige Büdnerei

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Fallada-Haus und die nahe Umgebung

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Jürgen Henne und die Erinnerung des Tages

Vor einigen Jahren durchlitten wir im Berliner Gropiusbau eine Ausstellung mit Arbeiten von Hermann Nitsch. Also Malerei, die ich nicht sonderlich schätze und vor allem fotografische Zeugnisse seiner Wochenendbeschäftigungen, an denen ich wiederum außerordentlich interessiert bin.
Der Mitarbeiter an der Eingangstür zur Ausstellung, mit einem saftig-belegten Brötchen vor seinen Zähnen, wünschte uns mit auserlesener Höflichkeit einen „Guten Appetit“.
Dazu sollte man natürlich die Aktion von Nitsch kennen !

Kunst des Tages

Leo Putz und Zeitgenossen im Kunstverein Apolda. Aus heutiger Sicht keine internationale Sensation. Doch für Abfälligkeiten nicht geeignet.

Literatur des Tages

Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels können nie schaden

Musik des Tages

Die wenigen Titel von „Blind Faith“ von morgens bis abends in einer Endlosschleife. Mit Eric Clapton (Yardbirds, Cream), Ginger Baker (Cream), Steve Winwood (Spencer Davis Group) und Rick Grech (Family, Traffic).

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April 10, 2015 Posted by | Geschichte, Kunst, Leipzig, Neben Leipzig, Reisen | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Jean Dubuffet und „Art brut“ in Halle/S.

Fotografieren wurde mir ausdrücklich genehmigt!

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Halle/S., Kunstverein Talstraße, rechts der Anschlag zur aktuellen Ausstellung: „WAHN-SINN.Jean Dubuffet & Art brut. Aus der Sammlung Helmut Klewan.“

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Jean Dubuffet

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Jean Dubuffet

Karl-Heinz Janke, Anton Heyboer, Karl Genzel, Miroslav Tichy, Willem van Genk, Adolf Wölffli, Eugen Gabritschevsky, Ida Buchmann, Agnes Richter, Hermann Behle, Johann Knopf, August Natterer und natürlich Friedrich Schröder-Sonnenstern…..

Diese Namen kennt keine Sau, außer Jürgen. Vertreter einer Kunst, die landläufig als „Art Brut“ bezeichnet wird und wie zahlreiche Katalogeintragungen im 20 Jahrhundert unscharf, fließend und nicht selten hochgradig törricht ist.
In gängigen Büchern der Kunstgeschichte und Kunsttheorie wird „Art Brut“ als antiästhetisches Angebot gegen starre Wertvorstellungen in der Kunst, gegen bürgerliche Aphatie, als Ausdrucksform an der Peripherie gesellschaftlicher Kulturen angeboten.
Also naive Kunst von Außenseitern, Psychopathen, bzw. Geisteskranken, Eremiten, Anstaltsbewohnern, Aussteigern, Gefängnis-Insassen….mitunter erweitert durch ozeanische und afrikanische Kunst.
„Art brut“ wird heute gelegentlich durch „Outsider Art“ ersetzt.

Das ist teils richtig, dennoch Schnee von vorgestern und allgemein formulierte Sülze.

Denn z.B die Bezeichnung „Impressionisten“ wurde anfänglich ebenfalls als Verhöhnung und Ablehnung gültiger Traditionen begriffen. Auch die „Fauves“ ( Die Wilden) wies man in ähnlicher Manier ab.
Bei ihrer ersten Ausstellung nölte ein Kunstkritiker von „Wilden zwischen Donatello“.

Gegen Donatello, dem Genius der italienischen Frührenaissance, gibt es natürlich nichts einzuwenden, doch trennten ihm von den „Fauves“ über fünfhundert Jahre.
Auch Dadaismus, Kubismus, Duchamps „Fountain“ oder Hugo Balls Lautgedichte dürften Zeitgenossen, die noch vor den Bildern Makarts, Pilotys, Kaulbachs oder Wislicenus schwelgten (Er malte das Grauen im Kaisersaal Goslar) zur Weißglut gebracht haben.

Und schon die surrealistische Truppe um Arp, Bellmer, Breton, Lam, Tanguy beobachteten im Verlauf der 20er Jahre die Arbeiten von psychisch problematischen Zeitgenossen mit aufmerksamer Hochachtung.
Ihre künstlerischen Ergebnisse legen davon durchaus Zeugnis ab.
Also Provokationen gegenüber festgezurrten Dogmen begründen die Existenz von „Art brut“ nur ungenügend.

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Gaston Chaissac, 1962/63

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Margarethe Held, 1950

Oft werden dann Einordnungen wie Gemeingefährlichkeit, Landstreichertum, Verhaltensauffäligkeit und unstetes Leben als plausible Charakterisierung aufgeführt. Gleichfalls als grundsätzliches Kriterium fragwürdig.
Sicherlich sind die Biografien dieser Künstler nicht immer „normgerecht“. Nach einem vorzüglich bewältigten Soziologie-Studium ins Gefängnis, nach einer Beamten-Existenz in die Einöde und tatsächlich überdurchschnittliche Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten.

Am Beginn der 70er Jahre erhielt ich erstmalig Einblicke in diese Kunst, durch Kataloge mit Arbeiten Friedrich Schröder-Sonnensterns, Jean Dubuffets und der Sammlung Prinzhorn, natürlich aus dem „Westen“.

Innerhalb der offiziell-einfältigen DDR-Propaganda gab es natürlich keine Menschen mit psychischem Sonderstatus, mit Tendenzen von sozialer Unangepasstheit. Der sozialistische Edelgermane war keimfrei, parteilich, fleißig, ohne Schritt-u.Mundgeruch und überhaupt gefeit gegenüber allen „Abnormitäten“, einschließlich psychischer Nebenwege.

Worin liegt nun das besondere Wesen von „Art brut“?
Ich weiß es auch nicht so genau!

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Martina Kügler, 1986

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Martina Kügler, 1991

Über viele Jahre wurden diesen Arbeiten ausschließlich unter dem Aspekt psychopathischer Krankenakten bearbeitet. Die Kategorie Kunst blieb unbeachtet.
Als auffälliger Zustand stellt sich zunächst ein konsequent durchgezogener Egozentrismus dar, der sich z.B. durch die Zelebrierung individuell geformter Riten magischen Zuschnitts äußert.
Bislang geltende Sozialbindungen werden verschoben oder zerstört. Bei teils wahnhaften Exzessen, oft mit religiösen Tendenzen, bilden sich neue Wahrnehmungen. Der Künstler (Patient) schafft sich neue Bewusstseinsmuster, um zu überleben.
Der eigene Gestaltungswille dient dabei als Katalysator
Die Kunst reflektiert diese Prozesse, als Stabilisierung einer angemessenen Existenzgrundlage.
Der Künstler entwickelt seine Privat-Ikonographie. Obskure Schriftzeichen, eine chaotische Kalligrafie, der Einsatz von Neologismen und überbordende Phantasie können diese Arbeiten begleiten.
Befehle von „außen“, denen missionarische Hektik und die eigene Einordnung als „Weltenretter“ folgen könnten, sexuelle Bezüge von frappierender Offenheit, genital-anatomische Wunderwerke, auch im sadomasochistischem Bereich angesiedelt, deuten auf veränderte Bewusstseinsebenen.

Doch bleiben diese Beschreibungen und Einordnungen vage.
Es ergeben sich faszinierende Zusammenhänge.

Denn kalligraphische Bilder der „unnormalen“ Barbara Suchfüll (1910) könnten gnadenlos als künstlerische Ergebnisse des „normalen“ Carl Frierich Claus durchgehen.
Die florale Malerei der „normalen“ Georgia O’Keeffe ist von den Arbeiten der „unnormalen“ Helene Maisch (1919) nur schwer zu unterscheiden und der „normale“ Jean Tinguely berief sich eindringlich auf die Maschinen des „unnormalen“ Heinrich Anton Müller (Beginn 20.Jhrh).

Zu „Art brut“ (grobe, rohe Kunst) werden mitunter auch Kunst von Kindern oder naive Arbeiten gerechnet, gleichfalls ozeanische und afrikanische Kunst. Das ist hochgradig anmaßend.
Denn kulturelle Leistungen, die nicht dem europäischen Ästhetik-Standart entsprechen, sollten nicht mit dem Urteil „grob, roh“ belegt werden. Aber das wussten z.B. schon die Expressionisten.

Ich vermute einmal, dass Fontane sich nicht mit derartiger Kunst beschäftigte. Doch den Spruch von Vater Briest…..“Das ist ein weites Feld“……kann man hier getrost anwenden.

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Halle, Kunstverein „Talstraße“ e.V.
Talstraße 23
06120 Halle/S.

Di-Fr. 14-19 Uhr
Sbd-So. 14-17 Uhr

bis 17. Mai 2015

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April 1, 2015 Posted by | Kunst, Leipzig, Neben Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar