Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und Donald Sutherland, Brad Pitt, Tommy Lee Jones in „Ad Astra-Zu den Sternen“, 4 966 ooo ooo Km, hin und her, hin und her, Jessye Norman mit Strauss, Humble Pie in San Franciscom und 1:3

Plakatwerbung zu „Ad Astra – Zu den Sternen“.

Donald Sutherland, Tommy Lee Jones und Brad Pitt, ein Terzett, mit dem man sich durchaus vorstellen könnte, zwei Stunden auf, bzw. vor der Leinwand zu verbringen.

Spontan und unkontrolliert denke ich bei Sutherland natürlich an „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und mit Gänsehaut an den zwergigen Unhold am Ende des Films.
Aber auch an den fanatischen Jung-Nazi in Bertoluccis „1900“, einer der bedeutendsten Filme meiner Jugend, zu Sutherland gesellten sich noch De Niro, Depardieu, Lancaster…
Aber auch der „Nadel“ und „Klute“ (mit Jane Fonda) wird man sich schwer entziehen können.

Brad Pitt wird bis in die cineastische Ewigkeit von seiner Teilnahme an Tarantinos „Inglourious Basterds“ leben können.
Auch „Sieben“ ist ein bemerkenswerter Streifen, wenn man die Zelebrierung dieser zivilisatorischen Grenz-Areale mag.
Und natürlich „Ocean`s Eleven“ und „Fight-Club“.

Auch Tommy Lee Jones` Streifen „No Country for Old Men“ der Brüder Coen, neben Jones spielt Javier Bardem seine Rolle mit wundervoll ausgesuchter Widerlichkeit sowie „Im Tal von Elah“ und „Three Burials – Die drei Begräbnisse der Melquiades Estrada “ dürften auch nach dem kommenden Urknall einen bevorzugten Platz in der Filmgeschichte einnehmen.
Und selbst „Auf der Flucht“, die Story um Dr.Kimble (Serie der 60er Jahre), wurde mit durchaus anspruchsvoller Routine gedreht und gehört in das Regal für gehobene Actionsthriller (mit Harrison Ford).

Und nun Sutherland, Pitt und Jones in „Ad Astra – Zu den Sternen“, angeboten als Science-Fiction-Thriller seit einigen Tagen in den deutschen Kinos.

Im Grunde will Roy McBride (Brad Pitt) nur zu einem Planeten, namens Neptun, um seinen Vater Clifford McBride (T.L. Jones) zu finden, der intelligente Grün-Kobolde suchte, irgendwie zum Psychopathen mutierte und dessen Mission irgendwo endete, der aber vielleicht noch lebt, vermutet man.
Zunächst schwankte ich bei dem Versuch, „Ad Astra“ entweder in die vorgegebene Kategorie Science-Fiction-Thriller oder in die Ablage für philosophisch-psychologisches Kino einzuorden.
Jetzt schwanke ich nicht mehr, denn nur ein markiges „Weder-Noch“ kann die Antwort sein.
Denn zu behäbig trödelt Roy McBride von der Erde zum Erdenmond, dann über den Mars zum Neptun.
Die Science-Fiction-Atmung röchelt ständig, Brad Pitts Gesicht im Raumanzug beginnt zu langweilen, obwohl es natürlich einschneidend besser aussieht als das meinige.
Aber eben nicht als Astronautengesicht, dass in Bälde einen Planeten erblicken wird, dessen Entfernung mit 4 966 000 000 Km von der Erde doch recht beträchtlich erscheint (Vier Milliarden, neunhundertsechsundsechzig Millionen Km), nämlich 124 150 mal Erdumfang am Äquator (Einhundertvierundzwanzigtauseneinhundertfünfzig mal, also 124 150 x 40 000 Km Erdumfang am Äquator).

Wenn ich wie Hänschen klein, zwar nicht in die Welt aber in das All und zum Neptun gehen und täglich 30 Kilometer bewältigen würde (etwa Leipzig-Halle/S.)
bräuchte ich etwa 165 Millionen Jahre (165 000 000).
Erdgeschichtlich also im Mesozoikum während des Jura-Abschnitts und mich hätte vielleicht ein Geschwader Archaeopteryx begleitet, zumindest anfänglich.

Raumfahrttechnik und Kosmos-Ambiente des Films erinnerten mich an eine durchaus schöpferische LEGO-Phantasie und als dann auf dem Erdenmond irgendwelche Rabauken, die scheinbar nur beim Abbau teurer Mond-Ressourcen einen Ständer bekommen, sich Kämpfe mit den „Guten“ lieferten, wurde meine Gähn-Muskulatur ziemlich komplex aktiviert.
Und das Geplänkel in der Schwerelosigkeit des Raumschiffs wurde journalistisch als Ballett bejubelt.
Ich sah lediglich eine Eiertreterei.
Sandra Bullock in „Gravity“ würde ich eine wesentlich höhere Benotung zuteilen.

Und als dann Vater McBride auf dem Neptun, bzw. in dessen Umfeld die Ankunft seines Sohnes wähnte und von der oberen Etage ein gelangweiltes „Bist Du es, Roy“ mit einer Intensität lispelte, als wäre Sohn Roy nur für ein paar Minuten zum Imbiss an der Ecke flaniert, um 2x Bockwurst mit Kartoffelsalat zum Mitnehmen zu erwerben, dominierte die Komik, die sicherlich nicht geplant war.

Ich benötige keine sogenannten „Schauwerte“, keine digitale Schwärmerei und Godzillas, King Kongs, Herren der Ringe, Jurassic Parks…nur einmal im Jahr, ansonsten bevorzuge ich Kaurismäki, Tarkowski, Jarmusch, Bergmann, Godard, Rohmer, Kieslowski, Seidl….

Doch „Ad Astra“ kommt einfach zu behäbig, zu unaufgeregt daher und selbst wenn ich die Wirkung des Films als Science-Fiction-Thriller unbeachtet in die cineastische Ecke schiebe und mich auf die philosophisch-psychologischen Dimensionen konzentriere, auf Metaphern und intelligente Verfremdungen, die existenzielle Lebensfragen kommentieren, muss ich mich an die legendäre Nadel in Heuhaufen erinnern.
Ich habe nichts gefunden.
Die Monologe und Dialoge sind meißt derartig dürftig und hölzern, dass man verzweifelt nach Schauwerten im Film sucht, sie aber nicht findet und darum erneut vezweifelt auf einigermaßen tiefschürfende Monologe und Dialoge wartet und dann wieder auf Schauwerte…, hin und her und hin und her und der Film ist nach reichlich zwei Stunden vorüber.

Kritiker ziehen Parallelen zwischen „Ad Astra“ und z.B. „Solaris“, „2001:Odyssee im Weltraum“ und „Apocalypse now“.
Ich bitte darum, schont den lebenden Coppola und die Seelen Kubricks und Tarkowskis.

Zugabe I

Leipziger Volkszeitung, 30.9.2019, Titelseite
Als ich am Sonnabend das Ergebnis dieses Spieles erfuhr, überlegte ich, wie man journalistisch in dieser Zeitung reagieren wird.
Und ich war sicher, entweder mit Pleite, Desaster, Blamage oder einem ähnlich grobschlächtigen Klotz.

Das Studium der Spielberichte mit fußballerischen Inhalten lagert bei mir interessentechnisch etwa auf der Linie der angebotenen Horoskope.
Aber vollständig kann man in Leipzig diesen Informationen nicht entgehen, selbst als Maulwurf nicht.

Und ich weiß, dass Leipzig nach diesem Spieltag die zweite Tabellenposition belegt, vor Schalke, Dortmund, Leverkusen… und ich weiß, dass Schalke sicher auch den Meistertitel anstrebt und deshalb, vermute ich, nicht auf dem Niveau von Fortschritt Schmölln oder Empor Meuselwitz spielt.

Und ich denke, dass man bei dieser Konstellation selbst auf eine 1:3-Niederlage nicht so dämlich mit „Pleite“ reagieren sollte.
Ich vermute, die Fans sehen das ähnlicher als die einfältigen Sportjournalisten.

Zugabe II

Ich gedenke Jessye Norman und werde in Bälde die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss hören.
Aufgenommen 1982 in der Leipziger Paul-Gerhardt-Kirche, Gewandhausorchester mit Kurt Masur.

Zugabe III

Und danach Humble Pie „Live in Concert“ im Winterland Ballroom in San Francisco, mit Steve Marriott (Small Faces), Peter Frampton (Herd), Greg Ridley (Spooky Tooth) und Clem Clempson (Colosseum).
Da brechen die Wände.


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Oktober 1, 2019 Posted by | Film, Leipzig, Musik | Hinterlasse einen Kommentar

Architektonisches Sonntags-Intermezzo mit Querhaus, Baumtöpfen, Epitaph-Figuren im Störtebeker-Modus und eine Jarmusch-Nacht mit Neil-Young-Epilog

Goseck, Kirche, bzw. Kirchenrest des ehemaligen Benediktinerklosters.

Cranachs d. Ä. „Hinrichtung der hl. Barbara“ soll sich bis 1945 zwischen diesen Wänden befunden haben.
Jetzt strahlt es im Metropolitan Museum of Art in New York, ein bemerkenswerter Weg.
Überhaupt haben Baugeschichte und aktuelles Erscheinungsbild dieser Kirche einen durchaus erstaunlichen Zuschnitt.
Goseck liegt innerhalb eines Terrains mit beachtlich hochwertiger Kulturgeschichte, unweit von Naumburg und Schulpforte, von Freyburg, der Schönburg und von Bad Kösen mit Rudelsburg und Saaleck.
Auch Memleben und Merseburg haben sich in übersichtlicher Entfernung abgelagert.
Ähnlich die Reste des Sonnenobservatoriums, etwa 2800 v.Z. und des Fundorts der Himmelsscheibe von Nebra, etwa 1600 v.Z.

Zurückgeblieben bzw. verschont sind von der ehemaligen Klosterkirche aus der Mitte des 11.Jahrh nur noch das Querhaus (s.o.) mit Apsiden, der Chor mit geradem Abschluss und eine zweischiffige Krypta, die im 16.Jahrh. im Ostteil durch den Einzug eines Tonnengewölbes zweigeschossig wurde.
(Die Benediktiner gründeten ihr Kloster hier um die Mitte des 11.Jahrh.)

Goseck, Blick nach Osten, Querhaus der ehemaligen Klosterkirche

Freundlicher Versuch, die ursprüngliche Struktur der Kirche zu veranschaulichen.
Man muss sich vorstellen, dass unmittelbar am Standpunkt meinem Fotografenapparats vor vierhundert Jahren sich das Mittelschiffportal befand, links auf der Linie der Blumen- (Baum)kästen die Pfeiler das Mittelschiff und das nördliche Seitenschiff trennten, der schwarze Belag etwa die nördliche Seitenschiffmauer markiert und die schattigen Schlossgebäude rechts (erste Hälfte des 17 Jahrh.) Teile des Mittelschiffs und das ehemalige Seitenschiff mit südlicher Ausrichtung ersetzt haben.

Chor, Nordwand

Alvensleben-Epitaph, links, erstes Viertel des 18 Jahrh., für den 1714 verstorbenen Ordomar v. Alvensleben.

Pölnitz-Epitaph, rechts, erstes Drittel des 17.Jahrh., für Bernhard von Pölnitz, kursächsischer Kanzler und Oberhofrichter in Leipzig.

Pölnitz-Epitaph, linke Seite mit der Darstellung von Bernhard von Pölnitz, von dessen Frauen, Söhnen und Töchtern, mit Blick auf Christi Kreuzigung, bzw. Kreuzabnahme (s.o.Gesamtansicht).
Figuren z.T. im Störtebeker-Modus, also enthauptet, Resultat vandalistischer Entgleisungen, vermutlich erst während der 70er Jahre des vergangenen Jahrh.
Die DDR-Kulturdeppen interessierte das eine feuchte Hüfte.

Pölnitz-Epitaph, rechte Seite
Epitaphe dienen im Gegensatz zu Grabmälern mitnichten zur Lagerung menschlicher Überreste und erfüllen eher die Funktion von Denkmälern.
Grabmal und Epitaph werden gebräuchlicherweise an unterschiedliche Standorten eingrichtet, das Epitaph bevorzugt an Kirchenwänden, doch auch an Pfeilern, Säulen…im Kircheninnenraum und werden in die übergeordnete Kategorie der Kenotaphe eingeordnet.
Spontan denke ich bei sächsischen Epitaphen z.B. an die Leipziger Universitätskirche (Olearius-Epitaph), an das Inventar der Laurentiuskirche in Pegau, aber auch an den Nosseni-Epitaph aus der ehemaligen Sophienkirche in Dresden (1945 stark beschädigt, am Beginn der 60er Jahre entgültig zerstört) und an den Görlitzer Nikolaikirchhof mit hunderten Grabmälern und Epitaphen.

Goseck, ehemalige Klosterkirche, Krypta
1046 geweiht.
Mit dominierendem Mittelpfeiler, keine besonders häufig bevorzugte Konstruktion.
Kreuzggratgewölbe.

Goseck, ehemalige Klosterkirche, Krypta-Fenster

Die Fenster wurden im 11.Jahrh. mit Eisengittern gesichert.
Davon existieren in Goseck noch zahlreiche Rudimente am ursprünglichen Standort.

Goseck, Krypta, spätgotische Gewölbemalerei


Filmvorschläge für eine Jim-Jarmusch-Nacht

Coffee & Cigarettes
Night on Earth
Mystery Train
The Limits of Control
Down by Law
Ghost Dog

U.a. mit Forest Whitaker, Tom Waits, Roberto Benigni, Isaach Bankolé, Tilda Swinton, John Hurt, Bill Murray, Steve Buscemi, Iggy Pop, Cate Blanchett, Armin Mueller-Stahl, Kari Väänänen (wurde besonders durch Filme des unvergleichlichen Aki Kaurismäki bekannt)….

Damit kommt man herausragend durch die Nacht.

Und die Filmmusik sollte man bei Jarmusch ohnehin immer im Ohr behalten und dann bald „Year of the Horse“ sehen, mit Neil Young, gleichfalls von Jarmusch.


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August 12, 2019 Posted by | Film, Kunst, Leipzig, Neben Leipzig, Reisen | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Bernardo Bertolucci, Rigolettos Ouvertüre und ein Gespräch über „1900“

Das Cover von „1900“ ist natürlich von bestechender Dümmlichkeit und eine ästhetische Körperverletzung
Man würde auf eine Biografie Barkhorns oder Erich Hartmanns tippen.

Eine Gedenkminute für Bernardo Bertolucci

Zu einem uneingeschränkt tätigen Propagandisten für Bernado Bertolucci würde ich mich auf Grund meines ambivalenten Verhältnisses zu dessen Filmen nur bedingt eignen.

Eigentlich gibt es nur zwei Filme des gebürtigen Pamigiani (Einwohner Parmas), der sich aber schon während seiner Kindheit mit der Familie in Rom ansiedelte, die ich in die Top 139 meiner bevorzugten Filme aufnehmen würde und die folgerichtig meine DVD-Sammlung bereichern, „Der letzte Tango von Paris“ und „1900“.

Doch wer kann schon erwarten, dass zwei der selbst geschaffenen Filme, Gedichte, Novellen, Gemälde, Kompositionen, Kochrezepte, Rettich-Züchtungen….den kommenden Urknall überstehen werden.
Ich vermute, dass Nora Gomringer und Julia Engelmann es z.B. nicht erwarten sollten
Bertolucci durchaus.
Und ich bin überzeugt, dass schon zahlreiche Texte mit meiner Handschrift den Weg in ferne Galaxien angetreten sind.

Erstmalig sah ich „1900“, als sich mein Ekel vor linken Dogmen, vor linker Geschichtsfälschung, in der DDR bis zum Brechreiz zelebriert, vor schleimig-verlogenen Parteikadern befriedigend festigte.
Deshalb nervten mich auch durchaus die mitunter plakativ gesetzten Regie-Einfälle klassenkämpferischen Zuschnitts und die missionarischen Behelligungen in diesem Film von 1976.
Ich sah „1900“ in einem Leipziger Kino.

Doch schon die erste Szene (nach einem Vorgriff auf den Abschluss des fünfstündigen Streifens) aktivierte meine Gänsehautbildung bis in die Kniekehlen.
Ein als Rigoletto verkleideter Trunkenbold strauchelt in der Finsternis durch das Bild mit: „Giuseppe Verdi ist tot, Giuseppe Verdi ist tot…“
Und darüber dröhnen die unvergesslichen Orchester-Einschläge der Ouvertüre Rigolettos.

Und diese unvergleichliche Bildregie, diese Farben-Ästhetik und der regelrechte Kolorierungs-Exzess mit der Farbe Rot, allerdings wiederum mitunter grenzwertig.

Und natürlich die Schauspieler, trotz aller technischer und digitaler Dröhnungen auch heute noch das wichtigste Filmmaterial.
Robert de Niro und Gérard Depardieu als Söhne des Gutsbesitzers, bzw. des Landarbeiters, Burt Lancaster als vergreister Vertreter der alten Gutsherren-Generation und der diabolische Donald Sutherland als Verkörperung der „Neuen“ Zeit, des faschistischen Italiens.
Fünf Stunden eine Hymne auf die Schauspielkunst.

Mich treibt es nicht zu einer tiefschürfenden Analyse der Filme Bertoluccis, zu der ich zweifelsfrei fähig wäre, auch zu seinen Arbeiten, von denen mein DVD-Player wegen ihrer ungenießbaren Kunstgewerblichkeit verschont bleibt, z.B. „Little Buddha“.

Aber infolge jahrezeitlich geschuldeter Gesundheits-Defizite läuft bei mir momentan nichts, abgesehen von der grünen Grütze aus meiner Nase und dem Darm-Material mit der Konsistenz aufgelöster Brühwürfel aus dem Anus.

Bei einer Rotwein-Runde vor einigen Jahren dozierte ein Teilnehmer über die Ungenauigkeit des Filmtitels, denn wir müssten doch eigentlich wissen, dass Verdi 1901 verstarb und die Handlung beginnt mit Verdis Tod. „Warum also „1900“, legte er knackig nach.
Er starrte mir triumphierend in die Augen und wartete auf eine Huldigung.
Ich starrte zurück und überzeugte ihn davon, dass ich über wesentliche Daten von Leben und Werk Verdis informiert sei.
„Na und?“ engegnete er dann.
Ich versuchte anschließend etwas ängstlich, ihn zu überzeugen, dass es nicht um 1900, 1901 oder 1902…gehe, aber um ein neues Jahrhundert, um ein neues Zeitalter, welches sich ankündigte, um eine Zeitenwende.
Wenn Verdi sich 1898 verabschiedet hätte, der Filmtitel „1900“ wäre gleichfalls angemessen gewählt.
Hätte sich Bertolucci z.B. für den Filmtitel „1401“ entschieden, würde man eine gewisse Skepsis akzeptieren müssen, denn 1401 wurde Störtebekers Kopf ohne Restkörper dem Meer übergeben.
Er lachte hölzern, beharrte auf seiner Analyse und reduzierte seine intellektuelle Durchdringung des Films weiterhin auf diese Jahreszahl.
Bald gelang es mir aber, das Thema zu wechseln und wir debattieren nur noch über Autos, Fußball, Saufen, Ficken…


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November 28, 2018 Posted by | Film | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Egon Schiele und was geschah auf einer Saalfelder Toilette?

LVZ, am vergangenen Freitag.

Endlich ein Beitrag, der mich über das Wochenende zu einer kreativen Stellungnahme herausforderte, der jeden Leser dazu zwang, Position zu beziehen, um dann mit effizienter Beharrlichkeit für sich selbst, aber auch im interessierten Kollektiv um die Ecke, eine humanistische und versöhnliche Erlösung zu finden.

Schiele-Denkmal in Tulln (2013)

Es bleibt natürlich eine Nuance Unzufriedenheit.

Denn die Abort-Flucht in Saalfeld erschien der Redaktion bedeutender als ein Hinweis auf Egon Schiele, der am 31. Oktober 1918 starb, also vor 100 Jahren.
Kein Wort über den österreichischen Maler, Zeichner, Opfer der spanischen Grippe mit 28 Jahren, nur wenige Tage nach seiner schwangeren Frau.
Kein Hinweis, geschweige eine Würdigung, weder vor noch nach dem Tag der gebackenen Luther-Rosen.

Und die Nuance Unzufriedenheit erweitert sich beträchtlich, wenn man zur Kenntnis nehmen musste, dass in diesem Blatt an herausragender Stelle z.B. über das Buch von Hartmut König berichtet wurde, eine der kulturpolitisch unappetitlichsten Figuren der DDR-Geschichte.

Oder über den 50. Jahrestag der Premiere von „Heisser Sommer“, gleichfalls unübersehbar in die Zeitung eingeordnet, diese einfältige Kino-Gurke im pubertären Spannungsfeld dampfender und sozialistisch aufgeheizter Testikel und Klitorides.

Bei diesem Anspruch braucht man natürlich keinen Egon Schiele.

Aber es hätte mich sicher interessiert, ob der Frau es gelang, die Aborttür zu verschließen oder sie sich mit ihrem Freund auf der Klobrille weiterkloppte und sich vielleicht gegenseitig die Abortbürste in den Rachen drückten.

Man wird einfach nicht mehr zuverlässig informiert.


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November 6, 2018 Posted by | Film, Kunst, Medien, Neben Leipzig | 1 Kommentar

Jürgen Henne, Éric Rohmer, Toni Joe White und ein florales Stillleben

Kassette mit Filmen Éric Rohmers, chronologisch geordnet

Jess Hahn als Peter Wesselrin (Pierre)

Filme von Éric Rohmer gehören nicht gerade zum täglichen Stammrepertoire innerhalb der deutschen Fernsehunterhaltung, auch nicht 1.30 Uhr im Nachtprogramm, auch nicht bei öffentlich-rechtlichen Sendern.

Natürlich hat Rohmer selbst bei bekennenden Cineasten mit einer frenetischen Hinwendung zum französischen Kino nicht den überwältigenden Nimbus wie z.B. Truffaut, Chabrol, Godard…auch nicht den etwas reduziert überwältigenden Nimbus wie Malle, Resnais, Rivette, Tati, Melville…

Denn alle aufgeführten Filmemacher besetzten auch das Mainstream-Kino um die Ecke, zumindest mit einem Film, z.B. „Der eiskalte Engel“ (Melville), „Letztes Jahr in Marienbad“ (Resnais), „Fahrstuhl zum Schafott“ (Godard), „Der eiskalte Engel“ (Melville), „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (Tati), „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“ (Chabrol), „Die schöne Querulantin“ (Rivette).

Bei Rohmer führen derartige Fahndungen zu keinem Ergebnis.

Im Rahmen meiner herbstlichen und heimischen Rohmer-Festtage legte ich als Ouvertüre seinen ersten Film in die DVD-Kiste und fragte mich, jedenfalls nach diesem Streifen, weshalb Rohmers Arbeit doch nur am Rand beachtet und bearbeitet wird.
Denn „Im Zeichen des Löwen“ ist ein beachtliches Debüt aus dem Jahr 1959.
Als einziger Film in dieser Kassette (10 DVD`s) blieb „Im Zeichen des Löwen“ bisher ohne Synchronisation, also mit deutschen Untertiteln, außerdem wurde ihm keine Farbigkeit zugebilligt.
Kann ich nicht beklagen.

Peter Wesselrin (Pierre), ein amerikanischer Komponist, lebt ohne Fortune in Paris, windet sich dennoch ziemlich gutlaunig, auch mit der Hilfe von Freunden, durch seine Existenz, preist die Schönheit seines Sternbildes (Löwe) und prophezeit eine reichhaltige Erbschaft.
Die Erbschaft kündigt sich an, denn seine Tante hat tatsächlich die Hufe hochgerissen.
Er gibt Sauf-Feste und seine nervenden Frohsinns-Exzesse, seine Großmäuligkeit und die gönnerhaften Humanismus-Attitüden stellen ihn nicht gerade in die Reihe glaubwürdiger Symphatie-Garanten.

Doch bald verschwindet Pierre und die Freunde erfahren, dass Tantchen den Pierre zugunsten des Neffen enterbt hat.
Und dann beschreibt Rohmer den Abstieg Pierres bis an die Seite der Pariser Clochards.
Anfangs malträtiert er Telefone, um bei Freunden und Bekannten Geld zu leihen, doch es ist Hochsommer und die Pariser haben ihre Wohnungen verlassen.
Mittellos wird ihm das Hotel verwehrt, die fettigen Flecke auf der Hose vergrößern sich, der beschädigte Schuh wird mit einem Stofffetzen aus der Mülltonne „repariert“, ein keimiger Bart wuchert im Gesicht.
Pierre beginnt, Nachtlager auf Bänken zu bereiten und auf Märkten Nahrungsmittel zu stehlen.
Er versucht, auf einer Bank Naschwerk von Kindern zu entwenden und fischt aus einem Gewässer eine verschleimte Tüte, in der er Kalorien erhofft.
Pierre wird von einem Clochard in einem verlotterten Kinderwagen durch die Straßen gekarrt und betritt spätestens jetzt das Stadium elender Verwahrlosung, Erniedrigung und existenzieller Hoffnungslosigkeit.

Aufstehen, laufen, hinsetzen, aufstehen, laufen, hinsetzen, aufstehen, laufen, hinlegen, schlafen….aufstehen, laufen, hinsetzen, aufstehen, laufen, hinsetzen, aufstehen, laufen, hinlegen schlafen…, dazu hungern, dürsten…

Rohmer beschreibt diese Abläufe reduziert, lakonisch und mit einer Dehnung, die durch ihre Wiederholungen auch beim Zuschauer eine Melange von Aggression und dem Bedürfnis nach Hilfestellungen provoziert.

Es scheint, dass Pierre sich auf alle Pariser Bänke gesetzt und gelegt, sich an alle Brückengeländer der Seine gelehnt, alle Treppen der Stadt bewältigt und sich durch alle Straßen bei abendlichen Regen und bei heller Tagessonne gequält hat.

Die Zeit fließt zäh, ein Tag endet in der Länge eines überflüssig und nutzlos gelebten Jahrhunderts.
Doch Pierre läuft und läuft…, er zelebriert die Ruhelosigkeit, um den sinnlosen Abläufen seines Lebens zu entfliehen.
Ein höllischer Kreislauf.
Nur selten winselt er fast unhörbar seinen Jammer aus der vertrockneten Mundhöhle, wenn er z.B. sich in eine Mauer krallt, mit einer keuchenden Klage:“ Immer diese dreckigen Steine, immer diese dreckigen Steine…“

Neben dem Hauptdarsteller und der Stadt mit ihren Straßenschluchten, durch die endlose Autoreihen dröhnen, mit ihren Seine-Ufern und Parks, bevölkert durch launig agierende Menschengruppen, reißt die Musik sich die Funktion des dritten Handlungsträgers zwischen die Violin-Saiten.
Intoniert von Gérard Jarry begleitet die Musik Louis Saguers mit befriedigender Schrägheit und infernalischen Intermezzi den Clochard Pierre in die waagerechte Position auf der vielleicht schmutzigsten Straße von Paris.

Doch dann wendet sich das Blatt, bzw. der Geldschein.
Ob ich mit dem Abschluss der Story zufrieden bin, muss ich mir nochmals überlegen.

Erste Zugabe
———————–

Florales Stillleben mit ornithologischem Akzent, mitten in Leipzig

Zweite Zugabe
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Ich bitte um eine Gedenkminute für Toni Joe White, der sich vor wenigen Tagen in den Swamp-Rock-Himmel verabschiedete.


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Oktober 27, 2018 Posted by | Film, Musik | Hinterlasse einen Kommentar