Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und die eher unregelmäßig bearbeitete Serie: „Jürgen Henne und die Lesezeichen der Welt“. Heute: Lesezeichen mit Bildern Egon Schieles aus Ceský Krumlov ( Egon Schiele ART Centrum ), Wien ( Leopold Museum ), Wien ( Belvedere )

Umarmung…..Männlicher Halbakt…..Stehender weiblicher Akt mit über der Brust verschränkten Armen….. Männlicher Halbakt…..Knieendes Mädchen in orangerotem Kleid. ( Offizielle Titel dieser Bilder )

Egon Schiele ( geb.1890 ) starb während der letzten Stunden des Oktobers 1918, wenige Tage vor dem Waffenstillstand des 1. Weltkriegs an der Spanischen Grippe und nur drei Tage nach dem Tod seiner Frau Edith.

Sicherlich gibt es wichtigere Dinge über Egon Schiele zu sagen, denn früh gestorben wird immer wieder einmal, aber irgendwie gehört diese Information in die aktuelle Zeit, zumal sie einen der herausragendsten Künstler des 20. Jahrhundert betrifft.

Ich fuhr während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts über vier Jahre sechs mal wöchentlich etwa fünfzig Minuten mit der Straßenbahn quer durch Leipzig zum Gymnasium, in der DDR auch als Erweiterte Oberschule bekannt. Und über vier Jahre sechs mal wöchentlich wieder zurück, gleichfalls etwa fünfzig Minuten. Wir nutzten diese Zeiten nicht selten zur gegenseitigen Information über unsere musikalischen Erlebnisse am Vortag nach Schulschluss vor den heimischen Radios im elterlichen Wohnzimmer mit quiekenden, plärrenden, ewig schwankenden „Westsendern“ auf Mittel-u. Kurzwelle.

Mich beschenkte man schon vierzehnjährig mit dem Privileg, ein eigenes Kofferradio zu besitzen (Stern 111), wodurch ich diese „Hottentotten-Musik“ in meinem „Kinderzimmer“ zelebrieren konnte (Diese sicher abwertende Bezeichnung für die südafrikanischen Völker der Khoikhoi war durchaus üblich bei älteren Generationen. Ich habe mich hier entschieden, „Hottentotten“ zu schreiben, nicht das „H-Wort“, könnte sich ja sonst auch z.B. um Hundekuchenvertilger oder Helgoländer oder Hauff/Henkler-Fans oder Hollundersaftsäufer….handeln).

Einige von uns, mich eingeschlossen, führten ein Tagebuch, das wöchentlich aktualisiert wurde und unsere jeweilige Top Twenty beinhaltete, zusammengestellt vorwiegend aus den englischen und amerikanischen Hitparaden. Einige Reste dieser akribischen Pubertäts-Buchführung haben sich erhalten. Truppen wie Animals („When I Was Young“), Spencer Davis Group („Gimme Some Loving“), Yardbirds („Heart Full Of Soul“), Who („My Generation“), Small Faces („All or Nothing“) bevölkerten meine musikalischen Tabellen auf dem Weg zur geschlechlichen Reife.

Und da baut sich nun bei mir die zugegeben beängstigend schlichte Regung auf, eine ewige Wertigkeitstabelle bildender Künstler des 20. Jahrhunderts zusammenzufügen, natürlich als kausale Reaktion auf meine Lesezeichen.

Ich werde mich aber beherrschen und beschränke mich auf den Hinweis, dass für Egon Schiele der Eintritt in die Top Twenty gesichert wäre, auch die Aussicht auf die Top Ten könnte ich nicht ausschließen.

Egon Schiele-Denkmal in seinem Geburtsort Tulln (Niederösterreich, vor dem Schiele-Museum, 2017)

Egon Schiele starb an einer Seuche, achtundzwanzigjährig. Nur um fünf Monate verfehlte er den Eintritt in das Ensemble der Musiker, die sich siebenundzwanzigjährig verabschiedeten, wenn sich der Klub 27 auch für andere Sparten öffnen würde.

Aber ähnlich wie z.B. bei Hendrix, Cobain, Morrison oder Janis Joplin ist es auch bei Schiele müßig , darüber zu spekulieren, welche Entwicklungen sich ohne diesen niederträchtigen Lebensabruch ergeben hätten.

Vergleichbar reduzierte Anwesenheiten auf unserem Planeten ergeben sich auch in den Biografien von K. Moon, K. Haring, O. Redding und Basqiuat, auch bei J. Bonham, Novalis und G. Trakl oder bei J. Buckley, A. Beardsley und G. Heym. Ein ungeordneter Querschnitt, den ich mir spontan aus dem Gedächtnis gequält habe. Büchner fiele mir noch ein, auch Hauff, zwei Dichter, die meines Erachtens nicht die fünfundzwanzig erreichen durften. Natürlich W. Borchert. Und ob Pergolesi und V. Bellini in einem erweiterten Leben ähnlich herausragende Stücke wie „Stabat Mater“, bzw. “ Norma“ komponiert hätten, weiß ganz allein der Wind.

Unser Robert, unser Anbeter der Kompetenz des Windes bei der Wahrheitsfindung, wird ja nun in Bälde 80 , übersprang den Klub 27 doch beträchtlich und bewahrte aber weitgehend seine frühen Ansprüche.

Doch denke ich auch sofort an Munch, Derain, an Mitglieder der expressionistischen „Brücke“, die in ihren frühen und mittleren Arbeiten kunsthistorisch europäische Maßstäbe setzten, aber in weiteren Lebensabschnitten in doch recht gräuliche Tiefen abdrifteten. Oder Johannes R. Becher, nur weitgehend bekannt als Texter der DDR-Hymne. Der Blick auf seine expressionistische Lyrik vor über einhundert Jahren verblüfft. Danach kam von ihm aber nur noch Sülze.

Nach einer impressionistischen Ouvertüre näherte sich Schiele dem österreichischen Jugendstil und der Kunst seines fast dreißig Jahre älterem Freundes und Unterstützers Gustav Klimt, aber auch v. Gogh und Toulouse-Lautrec beeinflussten ihn nicht unwesentlich. Schon 1909 belieferte er eine internationale Kunstausstellung in Wien. Seine Bilder hingen dabei neben Arbeiten u.a. von v. Gogh, Gauguin, Bonnard…, nicht schlecht für einen 19-jährigen. Anschließend beteiligte er sich an einer Jagdausstellung, durchaus bemerkenswert und amüsant.

Europa öffnete danach seine Austellungsräume für die Bilder Schieles, u.a. gemeinsam mit Mitgliedern des „Blauen Reiters“, z.B. in München, Budapest, Rom, Paris, Brüssel, Dresden, Stockholm, Amsterdam, Kopenhagen und besonders ab 1918, innerhalb einer Ausstellung der Wiener Sezession, erreichte er international hohe Wertschätzung. Doch dann war Schicht im Schacht, mit achtundzwanzig Jahren.

Also blieben ihm zehn Jahre für eine Kunst, deren Intensität und handwerkliches Vermögen zu einem Werk von höchster Originalität und fast beklemmender Unverwechselbarkeit führte, seine Zeitgenossen aber auch mitunter an die Grenzen ihrer Erträglichkeit.

Er hat seine Heftigkeit, seine Erregung und den erbarmungslosen Willen, das menschliche Gesicht, den menschlichen Leib in Gebärden und körperlichen Zuständen darzustellen, welche von existenzieller Wucht und vom Bewusstsein der Endlichkeit künden, nicht reifen lassen, er hat sie exzessiv in seine kurze Lebensspanne gepresst. Zehn Jahre, diese Zeit blieb ihm.

Natürlich malte und zeichnete Schiele auch Landschaften, Natur-Details und besonders während seines Aufenthaltes in Krumau (Ceský Krumlov) auch Architektur

Doch dominieren die Abbildungen des Menschen, die in ihrer Pein, tragische Zeugen zu sein, sich in morbiden Abläufen und knorpelig-knochigen Erstarrungen winden. Immer wieder sind es auch Selbstbildnisse mit panisch verrenkter Mimik, die einen introvertierten Schrei nach innen ableitet.

Nicht ganz unproblematisch bietet sich mitunter sein Verhältnis zu Erotik und Sexualität an, keinesweg wegen seiner häufigen und prägnanten Wiedergabe des weiblichen Genitalbereiches, das beherrschte z.B. auch Klimt hervorragend. Doch seine durchaus vorhandene Getriebenheit, Modelle zu zeichnen, die sich im Stadium der Pubertät befanden, irritierte natürlich sein katholisch geprägtes Umfeld, wodurch eine mehrtägige Haft wegen unsittlicher Zeichnungen ausgesprochen wurde. Ein durchaus bemerkenswert mildes Urteil. Für die Künstler der Dresdner „Brücke“ gelten ja bis heute noch ähnliche Vorwürfe.

Eine immer wieder gern gewählte Anektode über Egon Schiele zitiert die Abschiedserwartung von Akademieprofessor Griepenkerl bei dem vorzeitigen Rückzug des Studenten S. aus der Lehranstalt. Er flehte: „Sagen Sie um Gottes willen niemanden, daß sie bei mir gelernt haben.“

Wer ist Griepenkerl?

Gedrucktes Beispiel aus meiner kleinen Schiele-Bibliothek.

Aus der Reihe „Maler und Werk“ des „VEB Verlag der Kunst Dresden“. Maße: 11 x 16 cm, acht Textseiten, sechzehn Abbildungen (z.T. farbig), kurzer Lebenslauf, wenig Literaturhinweise. Preis: 2 DDR-Mark.

Etwas dürftig, doch Schiele war in der DDR nicht sonderlich gelitten und in meiner Erinnerung ist dieses Büchlein die einzige „Monografie“ über ihn. In den wenigen Nachschlagewerken, konnte man ihn natürlich nicht vollständig übergehen.

Die Reihe „Maler und Werk“ erschien zwischen 1971 und 1990, das Schiele-Heftchen konnte ich 1988 erwerben, also in einer Zeit, als im Republik-Palast schon das Licht unter den Bar-Hockern riss, die Gewölbe sich nach innen dehnten und die Scharniere von den Türpfosten tropften. Jetzt konnte man sich auch einen „kleinen“ Schiele leisten.

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Mai 22, 2021 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die eher unregelmäßig bearbeitete Serie: „Lesezeichen der Welt“. Heute: Zwei Lesezeichen aus Vezelay

Lesezeichen aus der Basilika St.-Madeleine in Vezelay (2007 vor Ort erworben). Maria Magdalena reihte sich in die weibliche Begleitschaft von Christus ein, die weibliche Personenschutz-Brigade des Menschheits-Erlösers sozusagen.

Linkes Lesezeichen oben: Narthex mit Eingangs-Portal und Tymphanon zum Langhaus, Blick nach Ost.

Linkes Lesezeichen mittig, Mittelschiff, Blick zum Chor.

Linkes Lesezeichen unten, Fassade

Rechtes Lesezeichen von oben bis unten, Bauplasik. Der Standort ist mir nicht mehr erinnerlich. Bei gefühlt tausenden Darstellungen von Drolerien und Gargoyles mit Dämonen, Teufeln…., also bei dieser endlosen Galerie von Fabelwesen an mittelalterlischer Architektur kann ein Überblick nur fragmentarisch bleiben.

Diese Lesezeichen sind natürlich keine Unikate von höchstem künstlerischen und finanziellen Wert. Sie erfüllen touristische Ansprüche, aber qualitativ auf einer etwas erhöhten Ebene.

Vezelay, Basilika St.-Madeleine, Mittelschiff, Blick von West nach Ost zum Chor.

Vezelay, Basilika St.-Madeleine, Blick von Ost nach West zum Narthex.

Die Basilika wurde 1979 in das Unesco – Welterbe aufgenommen, eine weise Entscheidung. Kurz nach Chartres und Versailles, aber früher als z.B. Reims, Amiens, Lascaux…

In Vezelays Kirche sollen Reliquien von Maria Magdalena aufbewahrt sein, glaubt und hofft man zumindest.

Vezelay lag vormals nur in Burgund und liegt seit ein paar Jahren mit ca. fünfhundert Bewohnern in Burgund-Franche-Comté, unweit von Auxerre mit der gleichfalls hoch bedeutsamen Kathedrale Saint Étienne.

Einst wurden in Vezelay religiöse Abläufe von höchster Wichtigkeit zelebriert. Hier trieb Mitte des 12.Jahrhunderts Bernhard von Clairvaux, Kirchenlehrer und Oberhaupt aller Zisterzienser, die Gläubigen in ihre Startlöcher zum zweiten Kreuzzug, am Ausgang des gleichen Jahrhunderts vereinigten sich die Horden von Richard Löwenherz und Philipp II. August zum dritten Kreuzzug und auf diesem Arreal begann einer der wichtigsten Pilgerwege des Mittelalters nach Santiago de Compostela.

Eine frühe Kirche wurde in karolingischer Zeit errichtet, es folgte am Beginn des 12. Jahrhunderts die Weihe von Teilen eines Neubaues, die aber nur wenige Jahre danach abfackelten, wiederum wenige Jahre danach begann die Arbeit an der Kirche, die in wesentlichen Abschnitten bis heute erhalten ist (Langhaus, Narthex, 1120-1150). Dann brannte es wieder einmal vor sich hin und flugs erweiterte man das romanische Langhaus durch einen frühgotischen Chor. Also die gängigen, aufgezwungenen Performances bei mittelalterlicher Architekturbearbeitung: Aufbau-Brand-Asche-Neubau-Brand-Asche-Neubau-Brand-Asche-Neubau….

Insgesamt misst der Bau etwa einhundert Meter und ist Frankreichs größte Klosterkirche.

Vom Eintritt in das Langhaus nach dem Narthex müssen etwa sechzig Meter bis zum frühgotischen Chor bewältigt werden. Dieser Weg gliedert sich in zehn Joche, mit rundbogig rhythmisierten Kreuzgratgewölben.

Der Narthex hat eine Längenmaß von zwanzig Metern, keineswegs alltäglich. Der Begriff Narthex wird „offiziell“ weitgehend nur für frühchristliche Basiliken und byzantinische Kirchen eingesetzt, bei mittelalterlicher Baukunst dominiert eher „Vorhalle“ Ich benutze dennoch Narthex, „Vohalle“ klingt irgendwie nach Bahnhof-Abort.

Im Chor, durchaus noch mit romanischen Reminiszensen angelegt, ist der Drang nach gotischem Vertikalismus schon allein mit der Verteilung von über einhundertundvierzig Säulen und Säulchen augenscheinlich.

Und natürlich die Bauplastik, ein Angebot von hochwertiger Bildhauerei, die in die globale Erstrangigkeit eingeordnet werden muss. Dabei wurden mindestens sieben künstlerische Handschriften in die kunsthistorischen Akten einsortiert …. da kann man sich vorstellen, was für eine Truppe in Veselay sich austobte.

Die figürlichen und ornamentalen Darstellungen reihen sich u.a. an den Kapitellen im Hauptschiff, in den nördlichen und südlichen Seitenschiffen, im Narthex und an den drei Typana am Hauptportal zwischen Narthex und Langhaus.

Da gibt es dann die Bestrafung des Geizes und der Verleumdung, den Kampf David gegen Goliath, auch den Kampf zweier Dämonen, einen Würgengel, die Hinrichtung des Mörders von Saul, natürlich Adam und Eva, dazu Riesen, Pygmäen und Großohrige, einen Mann, der Brot schneidet, einen Mann, der Ziegen füttert, einen Mann, der sich wärmt, einen Mann, der sich auszieht, man sieht Apostel, Araber, Inder, Phryger, Byzantiner, Armenier und einen Skorpion, einen Stier, einen Löwen, einen Kranich, einen Widder, einen Steinbock, Johannes, den Täufer, Moses, der einen Ägypter tötet, Abschaloms Tod, Raphaels Sieg über den Dämonen Asmodi, Gabriel bei Maria, Hirten bei der Krippe, einen Mann mit einer alten Frau auf der Schulter, gleichfalls Daniel in der Löwengrube, den Dämonen der Unreinheit, die mystische Mühle, den Zentauren Chiron, der Achill erzieht, musizierende Tiere, die Selbsterhängung des Judas, die Ermordung Ammons, Noah als Archenbauer, einen Drachenkampf, zwei Männer, die Trauben essen, die Entfernung des Kopfes Johannes d. Täufers, man erkennt zwei Töne des gregorianischen Chorals, einen weiblichen Faun mit Schwimmhäuten an den Füßen, die Segnung Jakobs durch Isaak, die Legende von der Bekehrung des heiligen Eustachius, Medaillon der Ekklesia,, einen Akrobaten, die Opfer Abels und Kains, Moses und das goldene Kalb, einen Mann, der eine Weinsichel hält, die Weinlese, den Frühling, die Heuernte, die Weizendresche, das Schweineschlachten, zwei Pelikane….und so weiter und so abwechslungsreich und so großartig und eine unterhaltsame Methode zur Wissenserweiterung.

Wenn nochmals eine der Pioneer-Plakette ähnliche Botschaft in das Universum gesendet werden solte ((1972), wäre die Aufnahme einer Abbildung dieser Kirche sicher notwendig.

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Mai 6, 2021 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar