Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und „Station Agent“ mit Peter Dinsklage als Empfehlung für den donnerstäglichen Tagesausklang

Promenade im Gleisbett

Station Agent von Thomas McCarthy, USA 2003

Heute, 29. November, 22 Uhr, 3Sat

Mit dem herausragenden Peter Dinklage (vorn), Größe um 1.35 m.
Ein Film ohne Mitleidsorgien, ohne dümmliche Häme. Aber mit kultivierter Ironie ohne Demütigungspotential, einer humanen Grundversorgung und dem Gespür für Wert und Würde alternativ existierender Mitmenschen.

Und immerhin schon 22.Uhr und nicht erst 0.45 Uhr.

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November 29, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, Tatorte in Münster, Gustav Mahler in Boernes Fleischerei, Richard Wagners Alberich in der Pathologie, die Unfähigkeit eines Fragestellers, akustische Folter auf Kultursendern und der Druck auf das Knöpfchen

Gustav Mahler

Ich bin nun nicht gerade ein eigeschriebenes Mitglied der Tatort-Fan-Crew, aber ein bekennender Radio-Hörer.
Doch bietet „Tatort“ innerhalb der Müllhalde „Deutsches Fensehen“ zunindest vereinzelt eine akzeptable Unterhaltung.

Und so ergab es sich, dass ich in den heutigen Morgenstunden auf „Deutschlandradio Kultur“, während meiner geschmackvollen, ästhtisch hochwertigen Gestaltung unseres Frühstücktisches,
das Gespräch zwischen einem Fragensteller und einem Autor, der scheinbar über die „Tatort“-Serie ein Buch veröffentlichte, zur Kenntnis nahm.

Ich starrte etwas gelangweilt auf die Eier-Uhr und vernahm die Festellungen des Fragestellers, dass Liefers und Prahl zwar außerhalb der Filmstudios sich sehr wohl um aktive und passive Beziehungen zur Musik bemühen, bei Thiel und Boerne im „Tatort“ die Notenkunst aber keine Rolle spielt.

Lieber Herr Fragesteller, das Poster an der Wand von Boernes Fleischerei-Studio beinhaltet ein Porträt Gustav Mahlers und Mahler ist ein Komponist von vorzüglicher Musik.
Und Boernes Verehrung von Mahler scheint recht heftig, sonst hätte er auch die Bildnisse von Fix und Foxi oder Schwarzenegger an die Wand heften können.

Und der „Spitzname“ Alberich für diesen symphatischen Kleinwuchs, so vermute ich gnadenlos, wird auf der Zuneigung Boernes für Richard Wagner basieren. Und Richard Wagner ist ein Komponist von gleichfalls vorzüglicher Musik.

Und ich denke, dass Boerne selbst schon bei Konzerten innerhalb des „Tatorts“ seine eigene pianistische Virtuosität zelebriert hat.

Warum muss man diese Oberflächlickeiten, diese scheinbare Selbstverständlichkeit einer unzumutbaren Vorbereitung für Sendungen bei Fragestellern ertragen? Diese penetrante Unkenntnis, mit der man sich dennoch leichtfüßig durch die Sendungen hangeln kann?
Das interessiert keine Sau!

Der weitere Verlauf dieser akustischen Folter bei „Deutschlandradio Kultur“ blieb mir unbekannt.
Ich drückte das Knöpfchen.
Dadurch wurde ich nicht abgelenkt und „meine“ Eier erhielten die vorschriftsmäßige Konsistenz.

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November 25, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Arkadi und Boris Strugazki, Andrei Tarkowski, Stalker und eine Verbeugung von Jürgen Henne

Szene aus „Stalker“, sicherlich nicht die Route für entspannte Wanderungen

Boris Strugazki starb vor wenigen Tagen.
Mit seinem Bruder Arkadi schrieb er den Roman „Picknick am Wegesrand“, den Andrei Tarkowski als Vorlage für „Stalker“ nutzte.
Ich sah diesen Streifen am Beginn der 80er Jahre im damaligen Filmkunsttheater „Casino“ in Leipzigs Zentrum.
Mir ist nicht erinnerlich, dass mich je ein Film mit derartiger Wucht aus meiner Bahn wirbelte.
Es war Sommer. Ich denke, der Film begann gegen 11Uhr, am Morgen eines Wochentags. Nach fast drei Stunden wurde ich wieder aus dem Kino gepült und ich stand in einer, für mich völlig grotesken Sonne und im Strom der nachmittäglichen Geschäftigkeit, die ich für einige Momente nicht einordnen konnte und der ich entsetzt auswich.

Diese fast schmerzhaft-suggestiven Bilder haben mein Filmverständnis wesentlich geprägt, obwohl ich nach dreißig Jahren diese taumelnde Euphorie abgelegt und eher durch nüchternes Verständnis ersetzt habe.

Aber auch diese Nüchternheit hat mich nicht von der Gewissheit befreit, dass Tarkowskis „Stalker“in der filmgeschichtlichen Ruhmeshalle zumindest nahe der zentralen Schnittstelle sein Telefon anglötet hat.
Wer diesen Film nicht gesehen hat, dürfte jetzt etwas irritiert sein.
Lars von Trier hat Tarkowski seinen Film „Antichrist“ gewidmet.
Die besten Filmemacher halten eben zusammen.

Ich verneige mich ungern und selten, doch bei den Brüdern Strugazki und bei Tarkowski gönne ich mir eine Ausnahme.

Und ein paar gedenkende Augenblicke für Boris Strugazki zu seinem Abschied und an Stelle von „Wetten dass…? und volkstümlicher Hopserei in den öffentlichen Programmen einfach wieder einmal „Stalker“ einlegen.

Ihr Intellekt wird es Ihnen danken.

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November 24, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die Legende vom Ozeanpianisten, ein Säugling auf dem Klavier, Tim Roth, ein Klavierduell mit Jelly Roll Morton, Musik von Peteris Vasks und Luc Ferrari, MUSICA NOVA in Leipzig und der Antichrist spielt Rinaldo

Tim Roth als 1900 am Piano (links)
19oo an Deck, etwas feucht (unten)

Am Neujahrstag 1900 wird ein Säugling auf dem Piano im Tanzsaal der Edelschicht abgelegt, auf einem Fährschiff, das unentwegt zwischen Europa und Amerika pendelt.
So beginnt die Geschichte, nach einem literarischen Monolog von Allessandro Baricco.
Giuseppe Tornato verfilmte nun 1999 diesen Stoff und ich Ignorant habe dieses feine Teil erst vor wenigen Tagen gesehen, unverzeihlich.
Als Notname verpasst man den Knaben die Zifferfolge „1900“, wodurch ich natürlich sofort an Bertolucci erinnert werde.
Der Film erhält den verhaltenen, etwas geheimnisumwobenen, doch auf alle Fälle wundervollen Titel „Die Legende vom Ozeanpianisten“

Tim Roth als 1900 agiert herausragend in oft kammerspielartigen Abläufen. Pruitt Taylor Vince ist ein ebenbürtiger Partner.
Wenig polternde Dramatik, doch reichlich Melancholie, Humor und Ironie bürgen zwei Stunden für vortreffliche Filmkunst.

Feinsinnige Monologe und Dialoge, die Musik von Morricone, lange, aber taktvoll unaufdringliche Einstellungen der Kamera bieten ästhtische Genüsse von überragendem Zuschnitt.

Ein Höhepunkt ist sicherlich das Klavierduell von 1900 mit Jelly Roll Morton, welcher unerschütterlich und mit bezaubernder Arroganz der Erkenntnis frönt, den Jazz erfunden zu haben und seine Virtuosität als unerreichbar verkündet.
Zumindest bis zu diesem Piano-Fight.

Der Film kann man bei amazon erwerben.
Leider wurde die aktuell käufliche Version garstig beschnitten.
Eine unerträgliche Anmaßung.

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Zwanglos aufgereihte Musiktipps

3.Streichquartett von Peteris Vasks

Les Arythmiques von Luc Ferrari

Pieces Nos.1 and 2 for Small Orchestra und Streichquartett Nr.1
von Conlon Nancarrow

Aber auch bei „Led it Bleed“ der Rolling Stones, „Colosseum Live“ von 1972 und bei Bowies „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ könnten wieder einmal die Ohren zumindest schwelen.

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Veranstaltungshinweis

28. November, 20 Uhr, Gewandhaus Leipzig, Mendelssohnsaal.
MUSICA NOVA mit Steffen Schleiermacher und dem Ensemble Avangarde, Dirigent Lin Liao.

Musik von Edgar Varèse
Iannis Xenakis
Morton Feldman

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Heute, 23.05 auf ARTE:

„Antichrist“, von Lars von Trier, in jeder Hinsicht viehisch.
Hier gilt tatsächlich das Klischee: Abgöttisch lieben oder erbarmungslos ablehnen. Eine junge Frau aus meiner familiären Umgebung beschenkte mich mit dem eigenen Film. Sie konnte es nicht ertragen, in der Wohnung zu leben, mit dieser DVD im Blickfeld.
Ich hatte ja vor gefühlt siebentausend Jahren die Musik Händels sehr geliebt.
Beim „Antichrist“ werde ich verführt, wieder einmal das „Alte Zeug“ zu hören.
Denn die grauenhaft schöne Eingangsszene wird mit einer Arie aus „Rinaldo“ unterlegt.

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November 21, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, ein alpiner „Winterdieb“, cineastische Trauerlandschaften, Simon, der Sandwich-Räuber, Kuscheln für 200 Franken, die Schönheit eines Schnürsenkels im Schnee und Murers „Höhenfeuer“

Innerhalb der gegenwärtigen Trauerlandschaften in Programmen, auf Plakaten und in den täglichen Pressewerbungen, welche uns in das Kino verführen wollen, ist Ursula Meiers „Winterdieb“ (Schweiz) eine weiße Erleuchtung.
Abgesehen von Sonderveranstaltungen, Festivals….u.s.w. habe ich in den deutschen Lichtspieltheatern seit längerer Zeit kein derartig verletzendes Filmangebot wahrgenommen.

Der Titel „Winterdieb“ wäre durchaus auch eine gelungene, sprachlich akzeptable Metapher.
Doch hier wird richtig geklaut, eben im Winter in den schweizerischen Alpen, auf teuren Pisten, in Hütten und Restaurants mit gediegenem Ambiente.
In den Taschen des zwölfjährigen Simon türmen sich Artikel wie Handschuhe, Ski-Brillen, Wintermützen, Sandwich-Tüten, die dann in Duschen bei Leiharbeitern oder „unten“ bei seinen Altersgenossen verscherbelt werden.
Und natürlich verweigert Simon auch nicht den kriminellen Griff zu gnadenlos kostspieligen Skiausrüstungen, einschließlich Bekleidung.

Und dort „unten“ im Tal wohnt Simon mit seiner Schwester Louise in einem furchtbar verlotterten Hochhaus, das wie der Inhalt eines aufgebrochenes Graufurunkels in einer paradiesischen Landschaft sumpft.
Die Verwandschaftsverhältnisse werden dann im Verlauf des Films noch anders geklärt.
Simon ist der einzige „Verdiener“ in dieser rudimentären Familie. Louise torkelt eher mit geöffnetem Schritt von Bett zu Bett, ist arbeitslos und lässt sich hin und wieder das Gesicht blau dreschen.

Neben Schnee ist Geld das wichtigste Bindeglied aller Abläufe. Kohle als Schmierstoff für die Heilung emotionaler Notstände.
Simon bezahlt zweihundert Franken, um bei seiner angeblichen Schwester etwas zu kuscheln, eine warme Hand im kalten Winter auf seinem Arm zu spüren.
Louise nimmt das Geld und Simon legt sich neben sie. Erschütternd.

Simon und ein englischer Gastarbeiter bei ihren Verrichtungen

Ursula Meier erzählt nüchtern, beobachtet mit einer brutalen Hartnäckigkeit und agiert mitunter hart an der Dokumentation.

Diese unerträgliche Tristesse, diese Schreie von Simon, die erst am Ende des Films als Tränen abdröhnen, werden in eine karge Filmsprache übersetzt, die auf dem eigenen Körper eine stabile und flächendeckende Gänsehaut entstehen lassen.

Ohne emotionalen Hokuspokus und dekoratives Beiwerk werden die Situationen abgelichtet, ohne Erbarmen und ohne aufdringliche Interpretation.

Der Kamerafrau Agnès Godard gelingen Bilder von überirdischer Schönheit. Aber eben nicht nur die Schönheit der weißen Alpengipfel, die sind ohnehin schön.
In dem Film wird gelegentlich ein fast surrealer Glanz angeboten, auch bis in kleine Details. Eine unaufdringliche Schönheit ohne Monumentalität, die Schönheit eines Schnürsenkels im Schnee sozusagen.

Das die Metaphorik sich manchmal an plakativen Nuancen scheuert, muss bei der Qualität des Films vergessen werden.

Unbedingt bis zum Ende des Abspanns ausharren, die Musik ist vorzüglich.

Ursula Meiers Debut „Home“ (2009) mit der einzigartigen Isabelle Huppert habe ich leider noch nicht gesehen, doch wird sich das in Bälde ändern.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf meinen kleinen Text vom 30.3.2011 zu Fredi M. Murers „Höhenfeuer“, gleichfalls Schweiz und gleichfalls überragend.

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November 12, 2012 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar