Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und das vorweihnachtliche Dezemberkalenderentsetzen

Franz Marc, „Bison im Winter“, Detail, Kalender „Art“ 2022, Dezemberbild

In die Rubrik „Franz-Marc-Enthusiast“ konnte ich mich noch nie einordnen. Innerhalb des „Blauen Reiters“ rangiert er im Rahmen meiner Resonanz-Skala für seine Bilder eher stabil in der zweiten Hälfte. Bei August Macke verklären sich meine Augen, bei Franz Marc blättere ich weiter. So schnörkellos kann Kunst-Rezeption sein.

Doch konnte ich diese Schnörkellosigkeit im Monat Dezember und speziell am 21.Dezember leider nicht zelebrieren. Denn ein sofortiger Übergang vom November 2022 zum Januar 2023, bzw. vom 20. Dezember zum 22. Dezember widerspräche meiner chronologisch ästhetischen Geisteshaltung.

Also musste ich für vierundzwanzig Stunden Marcs winterlichen Bison ertragen (unten) und werde ihn an anderer Stelle noch einige Tage ertragen müssen (oben).

Wobei ich Marcs Befähigung nicht anzweifle und sein früher Tod im 1.Weltkrieg vielleicht seinen Weg zu einem Titanen der Kunst des 20.Jahrh. verhinderte, nach meinen Bewertungskriterien.

Doch bei diesem frostigen Wildrind und dessen Umgebung beschränkte sich Marc dann doch eher auf eine lustlos zusammengewerkelte Flächenfüllung mit plakativ sortierten Objekten, die keine Negier antreibt, tiefer in das Bild zu blicken. Hier ein Tierchen, dort ein Tierchen, hier ein Bäumchen, dort ein Bäumchen….Und das am 21. Dezember gleich doppelt.

Franz Marc, „Bison im Winter“ , Gesamtansicht, kein Detail (s.o.). Schreibtischkalender 2022, 21. Dezemberbild

Wassily Kandinsky, ohne Titel, Kalender „Bauhaus“ 2022, Dezemberbild

Anders als bei Franz Marc entwickelte sich meine Zuneigung zu Wassily Kandinskys Kunst seit meiner späten Pubertät doch recht heftig. Und bis zum heutigen Tag verteidige ich, trotz einiger Relativierungen, seine Bedeutung für die Herausbildung der künstlerischen Abstraktion. Wobei man dann noch einen trennenden Strich zwischen Abstraktion und Ungegenständlichkeit ziehen sollte.

Und ob nun Kandinsky sein „erstes abstraktes“ Gemälde von 1913 auf 1910 vordatierte, um sich unumstößlich seinen Ruhm zu sichern, interessiert mich ähnlich geringfügig wie die Reißverschluss-Produktion in Süd-Alaska. Er bleibt ein unverzichtbarer Wegbereiter innerhalb der Kunstgeschichte.

Vor zwei bis drei Jahren gab es in Leipzig den Dokumentar- Film „Jenseits des Sichtbaren“. Schon dieser Titel geht mir hochkarätik auf den Zentral-Knorpel, schon 1000x gehört.

Beschrieben werden Leben, Kunst und Bedeutung der Schwedin Hilma af Klimt (1862-1944). Das Fazit dieser Zumutung beinhaltet die albern-fanatische Forderung, die Kunstgeschichte neu zu schreiben, in Anbetracht abstrakter Bild-Konstruktionen der Schwedin (vor Kandinsky ?), mein Zentral-Knorpel erweitert sein Leidens-Potential und beginnt zu glühen.

Der Film ist ungenießbar und Hilma af Klimts Bilder sind gräulich. Und außerdem ist es ohnehin problematisch, wegen dieses Oeuvres den Ablauf der Kunstgeschichte neu sortieren zu müssen. Denn es geht zweifelsfrei bei dieser Originalitäts-Debatte um Kunst, der Begriff Kunstgeschichte deutet unmissverständlich darauf hin. Doch bin ich deshalb mitnichten im Stande, die Bilder von Hilma af Klimt als Bewerberin für den Titel Kunstgeschichts-Revolutionärin zu akzeptieren.

Und keineswegs nur deshalb, weil mir dieser Esoterik-Kram natürlich wiederum meinen Zentral-Knorpel drangsaliert.

Aber trotz des eindeutigen Punkt-Sieges Kandinskys über Hilma af Klimt gehe ich an dem Kalenderblatt (oben) mit geschlossenen Augen vorüber. Der Kalender wurde unter „Bauhaus“ angeboten. Kandinsky lehrte an dieser bemerkenswerten Bude für Kunst und Handwerk zwischen 1922 und 1933 in Weimar, Dessau und Berlin.

Dieses merkwürdige, halbdekorative Oster-Feuerwerk malte er 1941, ein absolutes Spätwerk also. Sicherlich war es nicht zwingend, eine Arbeit Kandinskys für den Kalender „Bauhaus“ unbedingt aus den Jahren auszuwählen, als er eben in diesem Bauhaus sein Tagwerk verrichtete. Aber schlecht wäre es natürlich nicht gewesen, denn diese Gurke musste es nun wahrlich nicht sein.

Die Kunstkalender-Szene wird in Deutschland ohnehin von einer trübseligen Eintönigkeit geprägt.

Blauer Reiter, Bauhaus, Impressionisten dominieren als Herdenangebot auf den Verkaufs-Tresen des Landes.

Aber auch als Einzelkämpfer hängen die Mitglieder dieser Truppen mit ihren Arbeitsergebnissen zwischen den Regalen der Kunstkalenderkollektionsanstalten (Monet, Renoir, Kandinsky, Klee, Münter, Marc, Macke….). Und dazu v.Gogh, Mucha, Klimt, Chagall, Spitzweg….und das seit Jahren. Als Wunderkerzen leuchten mitunter z.B Rothko oder Hopper aus diesem Einerlei in meine begierig funkelnden Augen.

Irgendwie etwas dürftig.

Musik des Tages: Kompositionen für Flöte von Giacinto Scelsi

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Dezember 23, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und die alltäglichen Irritationen. Heute: Die Aufs und Abs eines Sportreporters.

Mein Kalenderblatt für das aktuelle Wochenende

Paul Cezanne, „Victor Chocquet auf dem Stuhl“, Öl auf Leinwand.

Das Ganzkörperporträt mit Sitzmöbel eines Zollbeamten und Kunstsammlers gehört sicher nicht in den Edelkoffer innerhalb von Cezannes Gesamtwerk, an meine Wand würde ich es trotzdem hängen. Denn Cezanne konnte eigentlich malen was und wie er wollte, auch mit geschlossenen Augen. Die Ergebnisse blieben immer sehenswert.

Und jetzt ein Beispiel meiner alltäglichen Irritationen

Irgendein Reporter oder Moderator oder Fernsehjournalist sprach während der Übertragung eines Biathlon-Gefechts über die vergangene Saison einer Sportlerin und zog das Fazit, dass es bei ihr „… mehr Abs als Aufs gegeben hat…“

Wie ständig bei diesen sprachlichen Zeugnissen des Grauens aktivierte sich bei mir eine bedrohliche Anus – Verwicklung, verbunden mit dem Wunsch, es möge ein Wumms in diese Abs – u. Aufs – Stimmbänder einschlagen oder gleich ein Doppelwumms, besser wären drei oder vier oder fünf Wümmse gleichzeitig. Oder drei oder vier oder fünf Doppelwümmse.

Außerdem fordere ich die fristlose Kündigung dieser sprachlichen Amöbe der Biathlon-Kommentierung. Es wäre dann mitnichten ein Auf, eher eines der Abs in der aktuellen Saison jener sprachlichen Reduktionsschnalle.

Zusätzlich beantrage ich eine weitere Zeitenwende, um der galoppierenden Infantilisierung unserer Zivilisation Einhalt zu gebieten.

Also „Aufs immer, Abs nimmer“, wie Erich, unser alter Saarländer markig zu sagen pflegte.

Und jetzt werde ich mir ein Fußballspiel ansehen und mich bemühen, über mindestens eine Halbzeit meinen Mund manuell zu einer vollständigen Sprachlosigkeit zusammenzuquetschen.

Denn Zeichen müssen gesetzt werden.

Und noch ein Zeichen werde ich setzen. Ich setze mich mit einem Handzeichen erneut vor den Fernseher für ein Fußballspiel. Mein Mund bleibt unverletzt, also ohne Zeichen, doch das Zeichen umspannt meinen herb-männlichen Oberarm, eine Armbinde mit dem gezeichneten Zeichen eines Porträts von Nancy Faeser, umrankt von dem feinsinnig und intellektuell sorgfältig gezeichneten Schriftzug, „Seh und hör ich ich Nancy Faeser, platzen mir gleich alle Gläser.“ Ein zebrechliches, aber dennoch starkes Zeichen.

Ich denke, ich werde mir eine kleine Zeichensammlung anlegen, denn schon Evelyn Hamann feierte bei Loriots „Kosakenzipfel“ ihre Bekanntschaft vom Klagenfurter Zeltplatz mit einem optimistischen „Reiter werden ja immer gebraucht“, das sollte auch für Zeichensammler und Zeichenverkünder gelten.

Denn starken Zeichen soll man nicht weichen, sonst wär man feige, sondergleichen.

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Dezember 10, 2022 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar