Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne, eine geschlossene Buchhandlung, zehn Bäckereien, Hermann Hesses Schmetterling und „The Death of Klinghofer“.

IMG_1062

Buchhandlung in Leipzig-Gohlis, unweit des Schillerhauses, Bild I

IMG_1065

Buchhandlung in Leipzig-Gohlis, unweit des Schillerhauses, seit Montag geschlossen, Bild II, Detail

Jetzt gibt es noch eine Buchhandlung, die ich ohne Beschwerden und zu Fuß erreichen kann.

Dagegen kann ich sechs Bäckereien ohne Beschwerden und zu Fuß bewältigen.

Und 2x Rewe, mit Bäckereien.
Also 8 Bäckereien.
Und 1x Kaufland, mit Bäckerei.
Also 9 Bäckereien.
Und 1x Hit, mit Bäckerei
Also 10 Bäckereien, ohne Beschwerde und zu Fuß.
Also innerhalb einer Fläche von 400m x 400m kann ich mir 10 unterschiedliche Prasselkuchen kaufen.
Aber nur ein Buch erwerben, in nur einer Buchhandlung
Also 10 Prasselkuchen und eine Buch.

Zu DDR-Zeiten hieß der Buchladen „Ottokar Domma“, nach der literarischen Figur von Otto Häuser.
Ein zwölfjähriger Schüler beschreibt den sozialistischen Alltag in einer sozialistischen Schule.
Hatte mich nie interessiert.
In diesem Alter las ich eher Verne, Cooper, Gerstäcker, Defoe…..

Mein Deutschlehrer in der Markkleeberger Penne bekam feuchte Augen, wenn er zelebrierte, uns Goethe, Schiller, Lessing, Heine…. unterzuschieben.
Endlose Rollen-Lesungen bei „Faust“ I+II, bei „Egmont“ und „Kabale und Liebe“.
Aber natürlich auch Lessings „Ringparabel“, bei der noch heute meine Augen von einer feuchten Glasigkeit belegt werden.

Doch irgendwann erschauerten wir bei der Erkenntnis, dass deutschsprachige Literatur keinesfalls bei Goethe, Schiller, Lessing, Heine…endet.
Auch nicht bei Keller und Storm.
Und schon gar nicht bei Bruno Apitz und Willi Bredel.

Neunzehnhundertundachtundsechzig gingen wir, allen Grundsätzen eines sozialistischen Jugend-Kollektivs zuwider, bei „Born to be wild“ die Wände hoch, füllten uns mit billigster Wermut-Brühe ab, warteten bald auf „Magic carpet ride“, „Pusher“, „Monster“, „Sookie, Sookie“…. und begaben uns auf die Reise zu Hermann Hesses Nirwana, denn Steppenwolf nannte sich die Truppe.

Bald erfuhren wir dann die Namen von Stefan Zweig, Franz Kafka Thomas Mann, Franz Werfel, Robert Musil, von Benn, Trakl, Heym, von Rilke, Hofmannsthal, Grass, Böll…., Autoren, die von den offiziellen Kultur-Clowns ignoriert oder in kleinen Auflagen und als sogenannte „Bückware“ verlegt wurden und innerhalb der staatlich vorgegebenen Unterrichts-Anordnungen keine Rolle spielten.

Und natürlich Hermann Hesse, der Peter Camenzind, der Steppenwolf und Glasperlenspieler, der Hans Giebenrath und Knulp unserer späten Pubertät.
Der Club der toten Dichter wäre für uns eine angemessene Veranstaltung gewesen.

Und Hermann Hesses wegen öffneten ich und mein Freund diese Buchhandlung in Leipzig Gohlis (s.o.,damals noch nicht „Ottokar Domma“), ich denke Neunzehnhundertneunundsechzig und fragten einen streng wirkenden Herrn hinter der Theke nach H.H.
Des Buchhändlers Gesicht vibrierte, die Augen mutierten zu Dolchen und er barmte mit überdurchschnittlicher Lautstärke: „Hermann Hesse, Hermann Hesse, den gibt es hier nicht.“
Wir waren erschüttert, doch auch beeindruckt.
Wir spürten den Zorn über sein Leben als Buchhändler, dem es versagt blieb, Bücher von Hesse straffrei anzubieten.
(Nach meiner Kenntnis wurden dann ab 1970 einige Bände von Hesse durch den Insel-Verlag herausgegeben.)

md14563368475

Und dennoch verließen wir den Laden nicht ohne Hermann Hesse.
Denn wir erwarben für etwa sechs Mark den Erzählungsband „Doch in uns das Herz“ aus dem St.Benno-Verlag.
Zwischen Saint-Exupery und Luise Rinser beschreibt Hermann Hesse auf etwa zehn Seiten das Schicksal eines platten, getrockneten Schmetterlings zwischen zwei kindlichen Lepidopterologen („Das Nachtpfauenauge“).
Und von dem Buchverkäufer mit den dolchigen Augen trennten wir uns auch einvernehmlich und warmherzig.
Denn wenn derartige Pickel-Jünglinge nach Hermann Hesse fragen, gibt es auch noch Hoffnung für dieses Land.
So wird er vielleicht gedacht haben.

Am Tag darauf kaufte ich bei Dolch-Auge eine zehnbändige Schiller-Ausgabe, mit schön güldenen Einbänden (für etwa zehn Mark) und suchte noch im Laden die Seite, auf der „Die Bürgschaft“ gedruckt wurde.

Die Buchhandlung schließt, die Bücher besitze ich noch heute.

Musik des Tages

John Adams, „The Death of Klinghofer“
Orchester der Oper Lyon, Kent Nagano

Bilder des Tages

Boucher: Leda-u.Odalisque-Darstellungen
Fragonard: „Die Schaukel“


juergenhennekunstkritik.wordpress.com
juergen-henne-leipzig@web.de
ILEFLoffsen2005198309092012dorHH

Januar 31, 2016 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar