Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und 41 760 Minuten bei unseren eidgenössischen Nachbarn, Teil III und das Bündner Kunstmuseum in Chur und Hermann Scherer und Dieter Roth……und Spielzeugautos, gefärbter und bemalter Zuckerguss in drei flachen Eisenwannen auf sechs Holzböcken und ein Gräuling

Chur (Graubünden), Bündner Kunstmuseum, Neubau, ab 2014

Zunächst wurde die Sammlung 1919 in der neoklassizistischen Villa des Kaufmanns Jacques Ambrosius von Planta ausgestellt. Später architektonisch erweitert. (s.o.).

Vorwiegend Arbeiten der Schweizer Künstler, noch vorwiegender der Landsleute aus Graubünden hängen an und stehen vor den Wänden der Museumsräume, aber auch Gästen aus der nationalen Nachbarschaft wie Ernst Ludwig Kirchner und Dieter Roth wurde die Aufnahme nicht verweigert.

Reichlich werden Bilder von Angelika Kauffmann angeboten, Mitte des 18. Jahrhunderts in Chur geboren, deren Kunst ich aber noch nie konfliktfrei ertragen konnte. Außerdem gibt es den herausragenden Hodler, den gleichfalls herausragenden Segantini und den Gruppen-Aufmarsch der Familie Giacometti mit Alberto, Giovanni, Diego, Augusto mit Graubünden als heimatliches Areal.

Auch Werke von HR Giger wurden und werden vielleicht auch noch gesammelt, gleichfalls in Chur geboren. Während unseres Aufenthalts gab es für ihn in einer anderen Einrichtung eine kleine Gedenkausstellung, er starb im Mai vor zehn Jahren. Für Zeitgenossen mit reduziertem Kenntnis-Fundament auf cineastischen Ebenen sei gesagt, dass Giger den freundlichen Alien zusammengefügt hat.

Saal der Expressionisten, im Vordergrund zwei holzige Figuren Hermann Scherers von auffallend hoher Qualität „Mann und Weib“, 1924. Scherer wird in die Kategorie „Deutsch-schweizerischer Künstler“ eigeordnet, geboren in Baden Württemberg. Er blieb nur vierunddreißig Jahre in dieser Welt und besuchte Ernst Ludwig Kirchner am Beginn der 20er Jahre des 20.Jahrh. mehrmals für längere Zeit in Frauenkirch (Davos). Ich hätte mich freudig angeschlossen.

Dieter Roth ( 1930/1998 ), „Vom Rhein“, 1970, Spielzeugautos, gefärbter und bemalter Zuckerguss in drei flachen Eisenwannen auf sechs Holzböcken.

Andreas Walser ( 1908/1930 ), „Baigneurs“ 1930, ( „Am Strand“ ), Öl auf Leinwand. Ein außerordentliches Talent, doch nach einundzwanzig Jahren war für ihn Schicht im Schacht.

Theo Eble ( 1899/1974 ), „Abstrakte Komposition“, 1937, Öl auf Leinwand

Lenz Klotz ( 1925/2017 ), „Gräuling“, 1957, Öl auf Leinwand

Corsin Fontana ( 1944- ), Ohne Titel, 1980, Holzschnitt auf Baumwolltuch

Heidsee, auf dem Rückweg von Chur zu unserer temporären Interimsbehausung in Lenzerheide während des ausgehenden Frühlings im aktuellen Jahr.

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Juni 25, 2024 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne, 41 760 Minuten bei unseren eidgenössischen Nachbarn, Teil II und Hans Arp und S. Maria in Selva und Locarno im Oktober 1925

Locarno, Cimitero di S. Maria in Selva (Friedhof der heiligen Maria in Selva), Grabstätte von Hans Arp

Selva sollte als Dschungel übersetzt werden, doch „Heilige Maria im Dschungel“ klingt sicher etwas ungebührlich. Die heftig bewaldete und wässrige Umgebung zur damaligen Zeit dürfte der Namensgeber gewesen sein.

Jetzt eine anspruchsvolle Darstellung von Arps Bedeutung anzubieten, erachte ich als wenig sinnstifftend. Sie würde mir ohne Zweifel gelingen, doch bedrängt mich gerade die Wärme, die Schwüle und die ständige Fußball-Brüllerei. Ein älterer Herr benötigt da etwas Zurückgezogenheit, Ruhe und die Zelebrierung einer kultivierten Denkfaulheit. Und Beiträge über Hans Arp wird man in allen Ecken und Enden der kunsthistorischen Literatur finden.

Jedenfalls wurde Arp 1887 in Straßburg geboren (damals Deutsches Reich) und verabschiedete sich fast achtzig Jahre später in Basel. Er bildhauerte, malte, nutzte graphische Techniken und schrieb dadaistische Gedichte. Und er schlingerte mit ungetrübter Selbstverständlichkeit in den Höhen erheblicher Gewichtigkeit zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus.

Gedicht von Hans Arp, Ausschnitt

er nimmt zwei Vögel ab

er nimmt zwei Vögel zu

er paust Grimassen auf die Luft

und unter das Wasser

er lebt tete-á-tete

pied-à-pied

handgemein

fussvornehm

und leib an leib

sieht er drei Eier

so ruft er

ei ei

und zählt doch richtig

ein bei bei zwei

zwei bei bei drei…….

Warum nicht, muss ja nicht immer der Erlkönig oder „Freude schöner Götterfunken….“ sein

Bei DDR-Partei-Amöben und und infantilen Kulturpolitikern wurde derartige Kunst ignoriert und führte bei einer zufälligen Kenntnisnahme weitgehend zu ausgedehntem, kollektiv erweiterten Brechreiz. Nur bei diesem dümmlichen Realismus sozialistischer Prägung glühten die Genitalbereiche. Gedruckte Veröffentlichungen gab es im Buchhandel also nicht.

Deshalb beschenkte mich ein Ungarn-Tourist etwa 1969/70 mit diesem Buch des Budapester Corvina Verlags, natürlich in ungarischer Sprache. Egal, die Abbildungen waren entscheidend.

Etwa einhundert Meter von Hans Arps Grabstädte entfernt ( auf der Abbildung besonders weit hinten ) gibt es mitnichten Kunst des 20. Jahrhunderts, es geht von A wie Arp bis Z wie…..klappt nicht, also von A wie Arp bis S wie S .Maria in Selva, die Kapelle des Friedhofs.

Und dazwischen liegen sechshundert Jahre Kunstgeschichte. Denn die zum Teil außerordentliche Wandmalerei wurde so um 1400 bis 1500 aufgetragen und kann, gleichfalls zum Teil, in die Periode des „Weichen Stils“ eingeordnet werden (um 1400), die sich besonders aus dem Prager Kulturkreis in Europa verbreitete. Wird auch durch „Schöner Stil“ oder „Internationale Gotik“ variiert.

Locarno, S. Maria in Selva, Wandmalerei, Ausschnitt, rechts hinten z.B. die Darstellung der „Schutzmantelmadonna“

Locarno, S. Maria in Selva, „Schutzmantelmadonna

Locarno, S. Maria in Selva, „Darbringung Jesu im Tempel“, eine besonders qualitätsvolle Malerei.

Die Bilder werden etwa vier bis fünf unterschiedlichen Pinselstrichen zugeschrieben., also vier bis fünf unterschiedlichen Handschriften, also vier bis fünf mittelalterlichen Wandbemalern mit vier bis fünf unterschiedlichen Qualitäten, aber für mich nur eine einzige Faszination.

Zugabe

Locarno, Gebäude, in dem im Oktober 1925 und sieben Jahre nach Beendigung des Ersten Weltkriegs die Locarner Verträge ausgehandelt wurden, mit den Teilnehmern Tschechoslowakei, Polen, Italien, Belgien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die „gelobten“, sich kriegsbedingt und waffentechnisch zumindest vorläufig und mit Ausnahmen, nicht mehr auf die Nüsse zu gehen.

Im Vordergrund ein Handwerker-Fahrzeug. Denn das Haus ist doch in einem weitgehend verheerenden Zustand und ich vermute, daß jetzt bis Oktober 2025 zum hundertjährigen Jubiläum restauratorisch durchgeknüppelt wird.

Noch eine Zugabe

Musiktipp der Woche

Erich Wolfgang Korngold, „Die tote Stadt“, Korngold schrieb die Oper im dreiundzwanzigsten Lebensjahr.

Sicherlich erscheint die Musik etwas anachronistisch zwischen die Notenzeilen gesetzt. In dieser Zeit, die Erstaufführung gab es am Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrh., hatte sich die Wiener Schule schon etabliert (Schönberg, Webern, Berg, Adorno) und Schönberg werkelte an seiner Zwölftontechnik.

Bei Korngolds Oper kann man eine Erinnerung an R. Wagner nicht ganz verdrängen, aber besonders R. Strauss saß, zumindest als Beobachter, recht nah an Korngolds Komponiertisch, als „Die tote Stadt“ hergestellt wurde. Und selbst unser Giacomo aus Lucca verließ hin und wieder seine blitzenden Sterne, ließ Mimi tuberkulös vor sich hin sterben und platzierte sich in Sichtweite zu Korngolds Möbelstück.

Aber dennoch bleiben es einhundertundfünfzig Minuten, die ich immer wieder gern hören werde.

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Juni 21, 2024 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar

Jürgen Henne und 41 760 Minuten bei unseren eidgenössischen Nachbarn, Teil I

Nach der kultivierten Detonation eines über lange Jahre unzerstörbar anmutenden Ekel-Stricks, der uns eine scheinbare Ewigkeit auf die 108 000 Quadratkilometer ostdeutscher Fläche festknebelte und nach fast fünfunfdreißig Jahren temporärer Standortveränderungen auf vier Kontinenten, gelang es uns in 41 760 Minuten der aktuellen Frühlingszeit das schweizerische Areal zu durchqueren, um die Ecke sozusagen und zumindest in Auszügen. Denn dieses Land mit dieser Kultur, dieser Geschichte und dieser Natur, kleiner als Niedersachsen, kann man dennoch in vier Wochen nicht vollständig erfassen.

Auf dem Weg nach Mogno, Kanton Tessin, der „Teufelsstein“.

Die Legende berichtet von den Bewohnern eines Dorfes, die durch ihre fromme Lebensart den Teufel zum Speien brachten, der darauf angewidert seinen teuflichsten, gewalttätigsten Kollegen den Befehl erteilte, das gesamte Dorf platt zu machen. Dieser Unhold erklomm flugs die Berge und brach sich brüllend einen großen Felsbrocken aus dem Gebirgsmassiv und eilte, hysterisch tobend von dannen, um das Dorf zu entsorgen.

Und gerade in dem Moment, als er sein Werk beginnen wollte, sah er eine schöne, leuchtende Frau den Dorfweg herauf schreiten, die den potentiellen Zerstörer einlud, für wenige Minuten auszuruhen. Des Teufels Gehilfe, er hieß Barbarriccia, folgte der Einladung, wollte aber bald seinen Weg wieder aufnehmen, um die Zerlegung des Dorfes zu beginnen. Doch die Mutter Gottes, denn nur sie kann die schöne Frau gewesen sein, hatte sich aus dem Staub gemacht. Barbariccia versuchte, den Felsbrocken erneut zu schultern, doch gelang es ihm nicht.

Ekstatisch fluchend verließ er den Ort und zog sich zutiefst beschämt in die letzte Höhle des Abgrunds zurück.

Als Fazit dieser Story kann damit gelten, das Gute hat das Böse besiegt, Gehorsam und Ehrfurcht triumphieren über die Unbilden der Natur, über böse Geister und alle anderen unangenehmen Abläufe. Na, klasse.

In Mogno, innerhalb 50 Minuten von 200 Meter auf 1200 Meter über dem Meeresspiegel

Mogno, Detail des Innenraums der römisch-katholischen Kirche San Giovanni Battista

Im April 1986 wurde die ehemalige Kirche barocken Zuschnitts durch eine Lawine zerstört, allein die Glocken konnten vom ehemaligen Inventar geborgen werden. Mario Botta aus Lugano, ein herausragender Vertreter der zeitgenössischen Architektur übernahm den Auftrag, an gleicher Stelle einen Ersatzbau zu errichten, der Dimensionen und religiöse Inhalte des zertrümmerten Vorgängers respektvoll aufnehmen sollte. Doch als Entwürfe, Pläne, Skizzen offiziell vorgestellt wurden, kulminierte eine Polemik, eine Auseinandersetzung, die man auch heute noch nachvollziehen kann, wenn die Traditionen und Riten dieser alpenländischen Gebirgsregionen berücksichtigt werden.

Doch Botta und seine Unterstützer setzten sich durch, er konnte 1992 sein Meisterwerk beginnen (bis1996) und eine tiefe Spur in die regionale und überregionale Architekturgeschichte formen.

Die Kirche ist Johannes d. Täufer geweiht, jenem freundlichen Herren, der unserem Jesus taufend durch den Jordan schleifte. Deshalb ist der Vorplatz mit einigen Kunst-Arrangements dekoriert, bei denen weitgehend Wasser dominiert

Aufnahmen vom Außenbau kann ich leider nicht bieten. Während dieser Minuten hatte meine Gerätschaft scheinbar eine weitere Mitarbeit abgelehnt. Gründe kann ich nicht benennen, da fehlt mir die Kenntnis über die Funktion technischer Feinheiten. Ich nahm dieses Missgeschick erst in der Höhe von 200 Metern über dem Meeresspiegel zur Kenntnis.

Mogno, San Giovanni Battista, Detail des Innenraums

Die Kirche wird durch Fenster weder erhellt noch gegliedert, denn sie ist fensterlos. Das Licht strömt aus dem Glasdach, das um 45 Grad geneigt ist und verbreitet sich mitunter in nicht einfach nachvollziebaren Bahnen, wodurch sich eine transzendent spirituelle Ausstrahlung entfaltet. Als Baumaterial wählte Botta Marmor und Gneis, ein Gestein mit linearen Parallel-Strukturen. Der Grundriss dieser minimalistichen Architektur wird durch eine Ellipse gebildet, in der ein Rechteck eingebunden wurde.

Mogno, San Giovanni Battista, Detail des Innenraums

Der Fläche, dem Volumen der Kirche wurden Dimensionen vergeben, die sich zur Aufnahme und zum Wohlergehen von etwa 15 Personen anbieten. Auf dem Bild die auffällig reduzierte Ausdehnung der Sitzreihen.

Für lärmende Widergaben von Oratorien oder Passionen ist diese räumliche Konstellation natürlich nicht geeignet. Doch die Zelebrierung geistlicher Musik für Kammer-Ensemble z.B. von Arvo Pärt und Olivier Messiaen würde die optische und akustische Magie zur emotionalen und ästhtischen Vollendung führen.

Mogno, San Giovanni Battista, Detail des Innenraums

Mogno, San Giovanni Battista, Detail des Innenraums

Die Schönheit des furiosen, aber nie bedrängenden Kontrasts zwischen hellen Bahnen und dunklen Nischen, zwischen den steinern – mamornem Material und der schwebenden Leichtigkeit des Glasdaches und die Zusammenführung elliptischer, kreisförmiger und rechteckiger Architektursegmente lassen die vorgeschlagene Aufenthaltsdauer in der Kirche von 2-4 Stunden als Selbstverständlichkeit erscheinen.

Auf dem Wege von Mogno (1200 Meter über dem Meeresspiegel) zurück auf 200 Meter über dem Meeresspiegel innerhalb von 50 Minuten.

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Juni 15, 2024 Posted by | Leipzig | Hinterlasse einen Kommentar