Juergen Henne Kunstkritik

Jürgen Henne und eine verzögerte Nachbetrachtung der 6. Schostakowitsch – Tage in Gohrisch, Juni 2015

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Hinter der Baumreihe fügt sich die Konzertscheune in Landschaft und Dörflichkeit Gohrischs ein, Spielstätte für die 6. Schostakowitsch-Tage, Juni 2015
Elbsandsteingebirge.

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Schostakowitsch lacht – eine Rarität

Einem exzessiven Musikverbraucher, der seit Jahrzehnten zwischen Konzerten mit der Tonkunst von Palästrina, Berlioz, Satie, Debussy und Berg pendelt, zwischen Schönberg, Webern, Feldman, Glass, Gubaidulina, zwischen Lou Reed, Elvis Costello, Patti Smith, Stevie Winwood, Mick Jagger und Blixa Bargeld muss schon ein gerüttelt Maß an Qualität angeboten werden, um eine positive Reaktion erwarten zu können.

Die Komponisten, Musiker, Organisatoren und freiwilligen Einsatzkräfte zu den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch schafften das ganz locker.
Sieben musikalische Ereignisse an drei Tagen mit jeweils vierhundert bis sechshundert Besuchern haben erhebliche Spuren in meiner Konzertbesucher-Biographie hinterlassen.

Natürlich wurde Schostakowitsch gespielt, u.a. drei Streichquartette und die Musik zum Film „Das neue Babylon“ (1929), in der er auch die „Internationale“ und „Unsterbliche Opfer“ verarbeitet.
Ich dachte dabei an nahe Verwande, die sich bei der Trauerfeier um den verstorbenen Stalin-Euphoriker Wilhelm Pieck (1960) unter den Klängen von „Unsterbliche Opfer“, eine Melodie der russischen Revolution von 1905, tränentechnisch heftig verausgabten.
Vergeudete Tränen.
Auch Offenbachs „Can Can“ wurde bei „Babylon“ durchgenudelt (Eine Liebesgeschichte während der Pariser Kommune), desgleichen Walzer und Polka, also eine schier unerschöpfliche Fülle an Zitaten und eigener Phantasie (Dirigat Waldimir Jurowski, gegewärtiger Leiter des London Philharmonic Orchestra)

Zum Abschluss des ersten Tages dann Schostakowitschs Sonate für Violine und Klavier G-Dur, sehr schroff und kantig, in zwölftöniger Manier, in der damaligen Sowjetunion nicht gerade eine Wunsch-Komposition.
Schostakowitsch beschenkte David Oistrach mit dieser Sonate zu dessen 60 Geburtstag. Bei der Uraufführung im Moskauer Konservatorium saß Swastoslaw Richter am Klavier.

Schostakowitsch komponiert, Oistrach fiedelt, Richter klimpert. Da kann man nicht klagen.

Als Konzert-Ort wurde in Gohrisch eine Scheune ausgewählt. Klingt zunächst etwas nach rudimentärer, unvollkommener Interimslösung. Aber mitnichten, es wäre eine völlige Fehleinschätzung. Ich habe selten eine derartig grandiose Tonakustik erlebt. Die Gründe vermag ich nicht zu erläutern. Ich bin kein Tontechniker.
Doch wie mit einem Seziermesser getrennt, öffneten sich die Töne in den Raum. Violine, Viola, Klavier, Cello, Flöte, Fagott…beanspruchten eisern ihre individuelle Notwendigkeit. Ich erinnere mich z.B. an Konzerte mit Eric Burdon/Brian Auger in Halle oder John Cale in der Leipziger Peterskirche, vor einigen Monaten.
Dabei vermengten sich die einzelnen Instrumente zu einem unerträglichen Matsch, die Noten versumpften in einer Pampe, deren einzelne Linien man nicht mehr nachvollziehen konnte.
Es lag natürlich nicht an den vorzüglichen Musikern.

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Jascha Nemtsov

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Borodin-Quartett, Gohrisch 2015, nach der Verleihung des Schostakowitsch-Preises

Zu einer markanten Kampfansage für eine stabile Konzentration entwickelten sich zwei Konzerte mit dem charismatischen Pianisten Jascha Nemtsov, der 24 (!) Präludien und Fugen von Vsevolod Zaderatsky spielte, also 48 (!) kleine Stücke zwischen 58 Sekunden und etwa 4 Minuten, insgesamt 220 Minuten.
Eine Musik, die nie enden sollte.
Einem edlen Langzeitmenü aus französischen Landen ähnlich wartet man auf die nächste Portion, mit den Gedanken, was sich Der „Koch“ ( Zaderatsky) hat nun wohl einfallen lassen.
Zaderatsky wurde in einer ukrainisch-polnischen Adelsfamilie geboren (1891) und agierte ab 1915 als letzter Musiklehrer des Zarensohns. Also biografische Details, die ihn ab 1917 zu Gewürm erniedrigten.
Er schrieb die 24 Präludien und Fugen in einem sibirischen Gulag zwischen 1937 und 1939.

Zaderatskys Präludien und Fugen pendeln gnadenlos zwischen traditioneller Barockmusik (Dreiteiligkeit der Fuge…)und zeitgenössischen Prinzipien, die sich auch schon einmal der Atonalität nähern können.
Tragische Stimmungen werden von heiteren, derb-burleken Bildern abgelöst. Melancholische Lautlosigkeit und expressive Dramatik binden sich an Melodien, deren Üppigkeit nur veblüffen kann.

Und natürlich Arvo Pärt, dieser estnische Meister der Reduzierung, der einmal sagte, dass die „reinen Glockenklänge“ der Vollendung am nächsten kämen.
Die Kategorie „Ruhe“ bestimmt Pärts Arbeit. Nur wenige Akkorde und Töne werden immer wieder in neue Zusammenhänge gebracht und moduliert.
Von Arvo Pärt gab es in Gohrisch z.B. ein „Vater unser“ für Countertenor und Streichquartett, „Arbos“ für acht Blechbläser und Schlagzeug und „Quintettino“ für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn.

Innerhalb von vier Programmpunkten wurden Vertonungen von Dichtkunst angeboten. Neben Pärts Liedern für Countertenor (Andreas Scholl), u.a. von Clemens Brentano und Zaderatskys Kompositionen für Singstimme und Klavier trieben mir besonders Schostakowitschs Bearbeitungen von Gedichten der unvergleichlichen Marina Zwetajewa die Gänsehaut auf meinen fülligen Leib, also einige Quadratmeter Gänsepickel.

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Bühnenbild zu „Vergiss Dein Pfuschwerk, Schöpfer“ – Vertonte Gedichte von Christine Lavant

Außerdem passte er Lyrik von Christine Lavant zwischen die Pausen einer Cellosonate ein, eine österreichische Dichterin, die mir bislang unbekannt war. Gesprochen und gespielt von Isabel Karajan, Tochter von Herbert.

„Alter Schlaf, wo hast Du Deine Söhne?
junge, starke Söhne sollst du haben,
solche Kerle, die noch mehr vermögen
als bloß kommen und die Lampe löschen.“

Strophe eines Gedichts von Christine Lavant, ich vermute, daran kann man sich gewöhnen.

Von Benjamin Britten wurde „These Words“ mit einem umfassenden Angebot von Blechbläsern und Schlagzeug intoniert, wobei „Unsterbliche Opfer“, anders als bei Schostakowitsch, nicht in einen größeren Rahmen eingebunden war, aber als Solo-Thema die kurze Komposition bestimmte.

Die einzige Musik dieser Tage, bei der meine Augen etwas gelangweilt der Versuchung erlagen, die architektonische Dachstruktur der Scheune zu erfassen, bildete das Streichquartett a-Moll von Nikolai Mjaskowski (1881-1950). Hübsch anzuhören Doch quäkte darin einfach zuviel Tschaikowski. Natürlich sind „Pique Dame“, auch „Eugen Onegin“ und die 6.Sinfonie herausragende Werke. Dann eben doch lieber gleich Tschaikowski als Mjaskowski.
Doch kann dieses Intermezzo gertrost vernachlässigt werden.

Ich bin sicher kein Großmeister mit der Gabe, meine Lebenskreise schon Jahrzehnte voraus zu koordinieren.
Doch für einige Tage im Juni des kommenden Jahres sind diese Kreise schon stabil umrissen.

Weiterführende Empfehlung

„Dem kühlen Morgen entgegen“

Film von Oliver Becker und Katharina Bruner über Schostakowitsch während der Zeit Stalins, mit Armin Mueller-Stahl.
Eine Mischung von Gesprächen (Rostropowitsch, Roschdestwenski, Maxim Sch.), Puppenspiel, aus Material alter sowjetischer Filme und gefilmten Schostakowitsch-Studien.

Außerordentlich hochwertig.

Abspann

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Das Gute und das Böse
Ich vermute Anfang der 70er Jahre.
Breschnew, Gromyko,Schostakowitsch


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Juli 1, 2015 - Posted by | Leipzig, Musik, Neben Leipzig, Reisen

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